cannes cannes: Das Kino und die Grenzen der globalisierten Welt
Mauern, Zäune, Wüsten
Warum über lahme oder ärgerliche Filme schreiben, wenn das Festival seinem Ende entgegeneilt und es gute Filme gibt? Sogar sehr gute: Filme, denen es gelingt, die Sucht nach Film zu stillen, anstatt sie – wie das an manchen Tagen des Festivals der Fall war – schmerzhaft spürbar zu machen. Ein solcher Film ist Chantal Akermans Dokumentation „De l’autre côté“, Teil des Sonderprogramms der „Sélection officielle“. Es geht darin um die Grenze zwischen Mexiko und den USA und um die Menschen, die sie zu überqueren versuchen.
An einer Stelle führt – das soll in dieser auf Querverweise und zufällige Bezüge versessenen Kolumne nicht vergessen werden – ein direkter Weg von „De l’autre côté“ zu Michael Moores im Wettbewerb gezeigtem Dokumentarfilm „Bowling For Columbine“. Eine von Moores zahlreichen Thesen lautete, das weiße, mittelständische Amerika sei deswegen so verängstigt und auf Waffen fixiert, weil es wisse, dass sich sein Wohlstand, dass sich seine Existenz auf gewaltsame Landnahme und Sklaverei gründen. Eben diese These drängt sich auf, wenn Akerman im Süden Arizonas mit Ranchern spricht. Die beharren auf ihr Recht, jeden, der ihre Ländereien betritt, im Zweifelsfall zu erschießen. Die finstere Ironie daran ist, dass das Land, um das es geht, früher einmal zu Mexiko gehörte. Wer ist der Eindringling?
In ästhetischer Hinsicht hat Akerman das Gegenteil von Moore gemacht. Wo „Bowling for Columbine“ Material anhäuft, montiert, Pointen sucht und findet, polemisch wird, nichts auslassen kann und daher zu keinem Ende kommt, da setzt Akerman auf Purismus. In ultralangen Einstellungen sieht man vor allem Landschaften: einen weiten Himmel, die Berge in der Ferne, Einöden. Manchmal Straßenkreuzungen und Gebäude in den grenznahen Städten oder eine Autoschlange, die sich einem Kontrollposten entgegenschiebt. Man sieht Wolken und Sandstürme, wie sie die Grenze passieren, man sieht die Grenze selbst, die für Menschen unpassierbar sein soll und doch passiert wird, man sieht sie als Mauer und als Zaun, die Kamera fährt daran entlang, scheinbar endlos.
Man sieht die Grenze als Niemandsland, aufgenommen durch ein Nachtsichtgerät. Auch das eine finstere Ironie: Die Menschen, die durch dieses Gerät sichtbar werden, scheinen weiß auf, wie eine Prozession von Anhängern des Ku-Klux-Klans. Man sieht außerdem, dass es auf der einen Seite nicht anders aussieht als auf der anderen, und man begegnet – das sind die stärksten Momente – denen, die die Grenze überqueren wollen, die es schon getan haben und gescheitert sind. Man begegnet den Angehörigen derjenigen, die verdurstet sind, weil sie in der Einöde die Orientierung verloren.
Akerman spricht mit dem mexikanischen Konsul in der Stadt Douglas in Arizona. Der Mann betont, dass der Wohlstand der USA ohne die billige Arbeitskraft der undokumentierten Einwanderer nicht möglich wäre. Ein Farmerpaar hat Angst vor Epidemien, die angeblich mit den Migranten kommen. Dann wieder trifft Akerman auf eine Gruppe von Mexikanern, um einen Tisch versammelt, einer verliest eine Erklärung, in der die Gründe für den Grenzübertritt dargelegt sind. Hat nicht jeder Mensch das Recht, sich zu bewegen?
Das ist die Frage dieses Films: Wie kann es angehen, dass in einer Welt, in der so viel von Globalisierung die Rede ist, diese Grenze existiert? Wie kann es angehen, dass Globalisierung nur bestimmte Formen von Bewegung meint, andere nicht? Was soll man von dem Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko halten, solange die Waren zirkulieren dürfen, die Menschen aber nicht? Dass man diese Fragen nicht der Sozialromantik verdächtigen sollte, dafür bürgen diejenigen, die Akerman und uns ihre Geschichten erzählen. In seiner Ruhe, seinen langen Einstellungen und seinen Gesprächen mit den Migranten findet „De l’autre côté“ zu einer Klarheit, die einen Teil des Glücks des Kinos birgt.
CRISTINA NORD
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