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besuch der alten dameHENNING HARNISCH über eine Armee der Verzagten

HERTHA, EINE MUFFELNDE WURSTPELLE

Ich wohne noch nicht allzu lange in dieser Stadt, aber lange genug, um gelernt zu haben, dass hier in Jahreszeiten und Stadtvierteln gedacht wird. Ich habe mich angepasst und mir ein einfaches Schubladensystem eingerichtet. Meine Stadtschublade kennt einen Winter, der auf Monster hört, und einen Sommer, der versöhnt. Sie kennt Zehlendorf und Friedrichshain, und an guten Tagen freut sie sich an der Differenz. Öffne ich die Berliner Fußballschublade, kriecht mir eine muffelnde Wurstpelle entgegen; sie ist in einen blauweißen Schal verpackt, schlabbert am Schulli und blökt mit batteriearmer Stimme: „Hahohe ...!“

Sie mieft wie die Berliner Morgenpost und wird nur in äußersten Notfällen geöffnet. Beispielsweise, wenn es um die Jugend geht. Ich meine den Teil der Jugend, der aus westfälischen oder hessischen Kleinstädten geflohen ist, auf der Suche nach einer Heimat jenseits von biografischen Altlasten. Der sehnsüchtig nach Abenteuern, Gleichgesinnten und Hinterhöfen nach Berlin gezogen ist wie die Jahrgangsstufen zuvor. Dieser Jugend, die schnell erkennt, dass der Berliner nicht auf sie gewartet hat, gilt mein Interesse. Jahr für Jahr fallen sie ein, Raucherecke um Raucherecke, eine von den Eltern finanzierte Armee gegen Schnauze und Mief.

Doch zwei Identität stiftende Konstanten einer Großstadt wird sie hier in Berlin leider nicht finden: den Fußballverein und das passende regionale alkoholische Getränk.

Was in Köln der FC und das Kölsch, in Frankfurt die Eintracht und der Äppler, in München Bayern, Sechzig und das Helle, in Hamburg HSV, St. Pauli und (zumindest) Astra, das ist in ... „Hahohe!“ ... Berlin die unselige Verbindung aus Hertha und Schultheiss. Während in westdeutschen Städten am Freitag- oder Samstagabend die Theken in Form von Schals und Übermut verziert und manchmal bereichert werden, bedeutet selbiges in Herthaberlin Warnung und ist ein sicheres Zeichen, die Lokalität zu wechseln.

Rührend schön muten die Versuche der Langzeitzugezogenen an, eine Gegenbewegung zu etablieren. Wenn der Barmann aus Göttingen im Wiener Blut in Kreuzberg Getränke (Beck’s aus der Flasche) mit ausgewaschenem Hertha-Schweißband serviert oder wenn der Geologe aus Marburg seit zehn Jahren vergeblich versucht, Hertha-Besuch und anschließende Kneipentour als eine sinnvolle Wochenendnummer zu verkaufen, dann sind das nur ehrenwerte Versuche, Herthaberlin an angenehme Orte und in angenehme Gesichter zu verpflanzen.

Dagegen stehen die harten „Hahohe“-Fakten: U-Bahn-Fahrten an Spieltagen, wo der ganze Haufen aus Hund, Flasche und brauner Soße in einem Wagen sitzt; Monokultur Schultheiss; ein Stadion zwischen Reichs- und Heerstraße. Gott sei Dank ist bald „Hahohe“-Wurstpellenpause, sage ich, stellvertretend für die Eingewanderten. Herthaberlin eingepackt, Schublade zu.

Doch die zugezogene Jugend weiß die Westberliner Zeichenwelt zu deuten und richtet notgedrungen ihre Fühler gen Osten aus. Der Prenzlauer Berg ist schon erorbert, jetzt wird die Karo angesteckt, das Berliner Pilsener geköpft und der Identitätsshift dadurch manifestiert, dass man ins Union-Stadion pilgert. Eine neue Schublade gilt es zu öffnen: Berlin-Ost. Vielleicht muss aber gleich ein neuer Schreibtisch her, scheint es doch so, dass MTV-Jugendliche lieber gleich nach London ziehen. Hertha?

Arsenal! Chelsea! Tottenham!

Hennig Harnisch war bis 1998 Baketballspieler beim Bundesligisten Alba Berlin

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