bernhard pötter über Kinder: Der Schritt zur Krone der Schöpfung
Meine Tochter lernt laufen. Leider erwirbt sie damit eine Qualifikation, die sie in ihrem Leben kaum brauchen wird
Niemand kann das Monster stoppen. Als es die Stadt betritt, zerbrechen Eisenbahnschienen unter seinem schweren Tritt. Häuser fliegen durch die Luft. Autos krachen aufeinander. Seine Krallen knicken einen Leuchtturm wie ein Spielzeug. Näher und näher kommt das Ding mit den weit aufgerissenen Augen. Aus dem Mund läuft gierig der Speichel. Dann fällt das Monster mir mit einem Jubelquietschen um den Hals.
Tina kann laufen.
Jedenfalls beinahe. Mit einem Ächzen stemmt sie sich aus der Hocke, balanciert ihr Gewicht aus, guckt, ob auch alle zuschauen, und tappt los. Mit Vorliebe mitten hinein in das Lego-Land, das Jonas gerade mühsam aufgebaut hat.
Godzilla verwüstet Tokio. Und strahlt dabei über alle Backen.
Tina hat ja auch allen Grund zum Stolz. Immerhin bewegt sie sich in die nächsthöhere Daseinsform: Bisher war sie eine Zimmerpflanze, die nur am Ort sitzen konnte, mit den Blättern raschelte und flehentlich die Hände erhob, um sich transportieren zu lassen. Sonne, Regen und andere Nahrung mussten zu ihr kommen. Dann wurde sie zum Reptil, das sich am Boden wand, über den Teppich robbte und durch den Flur kroch, die Nase dicht am Boden, um Mamas Witterung (Chanel No. 5 mit einem Hauch erbrochener Babymilch) aufzunehmen. Bevor sie mit dem Sprechen anfängt und damit zum Homo sapiens aufsteigt, hat Tina sich nun endlich aufgerichtet und bevölkert die Sphäre der Haustiere. Völlig selbstständig kann sie die Töpfe aus dem Schrank poltern und sich ganz eigenständig ihre Finger in der Schublade einklemmen.
Der Fortschritt ist ein Schritt. Und dann noch einer und noch einer.
Aber wozu all die Qualen? Weil man ohne das Laufen ein Wurm bleibt, wie es unter www.bio kinematik.de heißt? „Die Fußsohle ist eine Spiegelung sämtlicher denkbarer Aktivitäten des restlichen Körpers.“ Also ist mein Leben platt, riecht streng und ist mit Hornhaut überzogen? Aber da steht auch, dass Naturvölker „mit ihren Zehen ebenso geschickt sind wie mit den Fingern“ – wahrscheinlich, weil sie nicht schreiben können. Außerdem monieren die strengen Biokinematiker, dass wir unsere Fußsohlen sträflich vernachlässigen – wahrscheinlich haben sie noch nichts vom neuesten Schrei der „Lauflernschuhe“ gehört, die bei jedem Schritt quietschen wie ein Quietscheentchen. Das soll die Kinder für jeden Schritt belohnen. Bei Tina würde dieser Schwachsinn nur dazu führen, dass sie sich an ihren Schuhsohlen festbeißt.
In einem haben die Fußfetischisten allerdings Recht. Sie sprechen von der „Logik der Schmerzen“. Wenn Tina hintenüber in die Heizungsrippen kippt, mit dem Kinn in die Tischkante stolpert und mit der Nase bremst, weil der Puppenwagen wegrutscht – dann würde ich sie gern damit trösten, dass sie schließlich etwas fürs Leben lernt. Aber das stimmt ja nicht einmal.
Denn Laufen ist total out. Die Menschen laufen immer weniger und lassen sich immer mehr fahren. Noch 1972 legten die Deutschen 41 Prozent ihrer Wege auf der Fußsohle zurück. Heute sind es gerade noch 20 Prozent. Geht das so weiter, nehmen wir in 50 Jahren den Elektroroller zum Klo. Im Durchschnitt läuft jeder Berliner zielgerichtet täglich 750 Meter, sagt der Fußgängerschutzverein Fuß e. V. Dass es den Verein überhaupt gibt, ist wieder ein Indiz dafür, dass Fußgänger zur bedrohten Art werden. Denn natürlich joggen, spazieren, schlendern und bummeln die Leute, bis die Sohle brennt. Aber sie gehen nicht mehr zu Fuß, wenn sie was zu erledigen haben. Meine amerikanische Freundin Raylene war da schon vor fünfzehn Jahren auf der Höhe der Bewegung. „Laufen macht man zum Spaß und als Sport“, sagte sie und schwang sich in ihren riesigen Campingbus, um die Briefe zum Briefkasten zu bringen, „aber man läuft nicht, um irgendwohin zu kommen.“
So sitze ich im Kinderzimmer und sehe hilflos zu, wie meine Tochter eine offenbar völlig überflüssige Qualifikation erwirbt. Als ob sie lernte, per Bleisatz eine Zeitung zu layouten. Als ob sie Kohlekumpel im Ruhrgebiet würde oder Webdesigner bei einer Dot.com-Firma. Es bricht mir das Vaterherz, zu sehen, wie sie ihre Jugend vergeudet.
Wenigstens hat sie ihren Spaß. Und es gibt ja auch noch Hoffnung. Jonas jedenfalls hat mit seinen vier Jahren entdeckt, dass es zwar toll ist, wenn die kleine Schwester laufen lernt. Aber für ihn ist das schon lange nichts mehr. Ins Bett will er getragen werden. Zur Kita will er Rad fahren. Zum Einkaufen will er Auto fahren. Zu Oma will er Zug fahren. Beim Fußball will er auf Händen getragen werden. Laufen? „Ich hab’ so schwache Beine“, sagt er dann.
Denn Jonas hat nach Pflanze, Reptil, Tier und Mensch schon wieder die nächste Stufe erreicht.
Das Faultier.
Fragen zu Kindern kolumne@taz.de
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