berliner szenen: Glühend, voller Anfängergeist
Mit der U3 fahre ich zur Domäne Dahlem. Unterwegs merke ich: Handy vergessen. Hm. Ich hatte es doch in meine Jackentasche gesteckt, rekapituliere ich, während die Bahn emsig ihre Stationen abrattert. Umkehren? Zu umständlich.
Auf dem Markt dann locken die Köstlichkeiten des Herbstes, die Verkaufstische der regionalen Gemüsebauern gleichen überbordenden Stillleben: sattgelbe Quitten, Esskastanien, Kürbisse und letzte Weinbergpfirsiche schmiegen sich aneinander. Eine Käuferin in moosgrüner Jacke greift nach einem Bund Radieschen. Wundert sich: Nanu! Die gibt’s doch nur im Frühling?
Ihre Frage trifft direkt auf einen jungen Studenten, der im FU-Hoodie und mit frischen roten Wangen neben ihr aufgetaucht ist. Er meint mit einem bairischen Dialekt, das habe sich doch alles aufgeweicht mit den Jahreszeiten. Untermauert seine These versuchsweise: Frischlinge sehe man jetzt ja auch ganzjährig im Wald. „Für die Radieschen ist jetzt also Frühling?“, fragt die Käuferin und fügt etwas leiser an: „Also, um ehrlich zu sein, Frühlingsgefühle hab ich nicht.“ „Ich auch nicht“, gesteht ihr der Student lachend. Wie ich ihn so betrachte, denk ich: Aber Frischlingsgefühle wird er haben. Wie er glüht vor Anfängergeist! Alles ist noch spannend für ihn und neu, Stadt, Studium, Menschen …
Als ich zurückfahre, hat Regen eingesetzt. Auf dem Weg von der Bahn nach Hause bücke ich mich ungläubig; direkt vor der Hofeinfahrt liegt eine Wollsocke auf dem Gehsteig, regenfeucht und mit wüstem Matschsohlenabdruck. Meine Handysocke. Jetzt kommt’s drauf an, murmle ich, und hab Glück: Das Handy ist unversehrt, sogar noch trocken, hat ein paar Stunden auf der Straße verbracht, unbehelligt von allen Passanten, die nur eine Socke sahen. Und sie zum guten Glück links liegen ließen. Felix Primus
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