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berliner szenenEs wird Zeit

Es sind Gänse!“, sagst du am Abend. Wir lauschen durch angekippte Fenster. „Sie kommen aus dem Norden!“, sage ich, plötzlich aufgeregt wie ein Kind. „Denkst du, es schlafen ein paar auf unserem Hof?“ – „Ja, oder auf unserem Dach.“

Du liest weiter in deinem blauen Buch und ich denke über die Gänse nach. Auf unserem Dach? Wir wohnen in einem der VBV-Blöcke an der Mauergedenkstätte; sicher flach, bis auf den Kasten, aus dem man heraustritt. Nachts nur schwacher Widerschein von den Wolken darauf. Die Gänse watscheln ziellos auf und ab zwischen niedrigen, mit Dachpappe überzogenen Mäuerchen, andere kauern sich in den Windschatten des Kastens.

Am nächsten Tag bin ich allein. Noch mehr Gänse werden auf unserem trostlosen Dach rasten. Ich beschließe, wenigstens ein kleines Stück Rollrasen zu kaufen, damit sie im Gras auf- und abgehen können, bevor sie schlafen.

Zum Glück gab es bei OBI nur Kunstrasen. Echten Rollrasen hätte er nicht erlauben dürfen, sagt „Ihr Hauswart Thomas“, der auf dem Aushang im Flur bedrohlich wirkt und in Wirklichkeit ein feiner Mensch ist, während wir das Treppenhaus hochstapfen. Wegen dem Gießen. Draußen sieht es dann genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe: flach und grau, in den Kanten Schmutz, nur die großen Solarmodule habe ich vergessen. Thomas schaut mir zu, wie ich doppelseitiges Klebeband am umgedreht liegenden Rasen befestige. Vor den Kasten geklebt kommt mir das Stück sehr klein vor. Ich fühle nichts Besonderes, eine leichte Zufriedenheit vielleicht. Kalter Wind, trotzdem stehen wir noch eine Weile oben und blicken über Berlin. Vorsichtig spähe ich zu meinem Hauswart. Er wirkt abwesend, irgendwie melancholisch. Gänse lassen sich nicht blicken. „Wird Zeit, dass das Wetter wieder besser wird“, sagt er dann und wir gehen wieder rein. Jonathan Ruythers

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