berliner szenen: Pünktlich wie die Eisenbahn
Auf dem Küchentisch stehen frische Blumen. Trotz meiner Allergie. Ich halte die Luft an und verlasse den kontaminierten Raum. Was ist los, habe ich Geburtstag? Nein, das war letzten Monat.
Ich gehe in das Zimmer meiner Freundin, sie schläft immer noch, dabei ist es schon fast sechs Uhr. Draußen scheint die Sonne und die Vögel singen. Oder ist es die Nachbarin, die ihre Katze ruft?
Ach, ist das herrlich, denke ich, den ganzen Tag noch vor sich zu haben. Besonders gerne denke ich das, seitdem mir irgendwann aufgefallen ist, dass ich nicht mehr mein ganzes Leben vor mir habe. Mit einem Mal höre ich das Smartphone laut vor sich hin brummeln. Wo ist das Ding bloß wieder? Ich finde es auf dem Küchentisch. Eine Message meiner älteren Tochter erscheint. Sie ist vor einem Jahr ausgezogen. „In zehn Minuten bin ich da“, steht in Mikroschrift auf dem Display.
Ich begreife sofort. Das ist sicher Gedankenübertragung. Wir beide verstehen uns nämlich blind. Meine Tochter kommt zu Besuch. Wie schön! Aber warum erfahre ich das jetzt erst, quasi durch Zufall?
Immer bin ich der letzte in der Informationskette. Oder sollte ich es vergessen haben? Ich scrolle durch den Chat, dort steht es. Vor zwei Monaten schrieb sie mir, wann sie auf dem Willy-Brandt landet. Das Smartphone brummelt erneut. Es ist zehn Minuten nach Sechs. Das ist meine Tochter. Pünktlich wie die Eisenbahn, wie mensch früher sagte, als die Flüsse noch verpestet waren.
Ich warte im Hausflur. Ich will sie für mich haben. Wenigstens ein paar Minuten. Ich erkenne ihren Haarschopf, nein, doch nicht, das ist ein Mann. „Sie kommt gleich, ihr Koffer ist ziemlich schwer“, sagt der Mann und lächelt vertraulich, als kenne er mich bereits eine Ewigkeit. Sollte ich ihn auch vergessen haben?
Henning Brüns
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