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berliner szenenRingbahn statt Poesie

Hinter mir steht eine Astronautenskulptur, vor mir der Friedhof. Ich trinke Cappuccino und esse Karottenkuchen im Café Mars im Kulturquartier Silent Green, wo ich zum ersten Mal bin. Die Menschen um mich herum tragen neonfarbene Namensschilder, auf denen „Gast der Poesie“ steht – so erkennt man sie als Teil­neh­me­r*in­nen des Poesiefestivals, das gerade auf dem Gelände stattfindet. Sie sehen froh und frisch aus. Vielleicht erhalte ich gleich beim Event, zu dem ich eingeladen bin, ebenfalls so ein Schild – eines, das auch mir etwas Leichtigkeit schenkt? Ich bin dafür bereits zu spät, aber ich fühlte mich schon auf dem Weg nach Wedding schwach. Für Gedichte und Musik brauche ich Energie. Ich wollte meine Teilnahme eigentlich absagen, doch ich war schon am Südkreuz, um meine Freundin zu verabschieden und es war einfach, in die Ringbahn zu springen und mit den Sonnenstrahlen im Gesicht Richtung Norden die Stadt zu überqueren. Meine Freundin gab mir eine Jacke und einen Jutebeutel aus ihrem Gepäck, damit ich nicht zurück zu mir nach Neukölln musste. Sie wünschte mir viel Spaß und küsste mich, bevor sie in die überfüllte Regionalbahn nach Leipzig stieg.

Nach dem Cappuccino im Mars geht es mir nicht besser, also beschließe ich, wieder nach Hause zu fahren. Schnell geht es aber nicht: Am Bundesplatz bleibt die S-Bahn wegen eines Polizeieinsatzes stehen und ich bekomme ein schlechtes Gewissen, nicht doch bei der Veranstaltung geblieben zu sein. Gleichzeitig dreht sich mir der Kopf, und ich sehne mich nur nach meiner Couch und meiner Lieblingsdecke – als wäre es Dezember und nicht Juni. Endlich kommt die S42, allerdings fährt sie nur bis Südkreuz. Als hätte ich die Zeit zurückgedreht, stehe ich erneut dort, wo ich vor ungefähr zwei Stunden war.

Luciana Ferrando

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