berliner szenen: Intermezzo auf Rätoromanisch
Ich stehe an einer Charlottenburger Fußgängerampel und warte auf Grün. Das dauert. Eine ebenfalls Wartende neben mir telefoniert. Lässt mich aufhorchen. Ihre Sprache habe ich in Berlin noch nie gehört. Sie sagt wenig, hört eigentlich nur dem Anrufer zu. Also bleibe ich in der Fußgängertraube neben ihr stehen und spitze die Ohren. Als wir übern Damm sind, schlüpfe ich in eine kleine Aufmerksamkeitslücke der Sprecherin und frage: Entschuldigung? Ist das Rätoromanisch? Sie stutzt, schaut mich irritiert an. Telefoniert weiter. Plötzlich nickt sie mir zweimal zu und zeigt mir ihre freie Hand, Daumen nach oben. Ich schmunzle, würde gerne mit ihr reden, aber sie ist ja am Telefon. Kurz spreizt sie dann ihr Handy vom Ohr ab und fragt mich erstaunt: Wie haben Sie das erkannt? Ich sage: Ein Italienisch mit schweizerdeutschem Akzent kann’s nicht sein, dacht ich, und … Noch einmal ernte ich ihren hochgereckten Daumen. Abschließendes Lächeln, dann telefoniert sie weiter, so konzentriert und ruhig, als sei sie gemütlich im Ohrensessel und nicht auf der Wilmersdorfer. Ich weiß nicht, welches Idiom es war, auch das hätte ich sie noch gerne gefragt … Vielzahl lang gezogener Diphthonge, Betonung der Zweitsilben, gezischte und verhärtete Auslaute. Erfrischend, dies kleine Intermezzo, erstaunlich auch, denn selbst in der Schweiz außerhalb Graubündens hört man das Rätoromanische, immerhin vierte Schweizer Amtssprache, zunehmend seltener.
Die Zahl der Sprecher sei inzwischen so geschrumpft, dass alle in ein großes Fußballstadion passen würden, erfahre ich von einer Schweizer Freundin, der ich später von der Begegnung erzähle, dabei frisch gezauberte Marronicreme naschend. Ich spreize den Hörer ein wenig ab und lächele in mich hinein … Da ist sie wieder, die Mini-Auszeit von Berlin.
Felix Primus
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