berliner szenen: Mit einem Kuss den Tag retten
Am liebsten würde ich sie bis zur U-Bahn-Station Boddinstraße bringen und sie küssen, bis die U-Bahn Richtung Hermannstraße kommt und sie einsteigen muss. Dann würden wir uns winken, bis es unmöglich wird, uns noch zu sehen. So würde ich es tun – wie immer, wenn ich mich nicht gerade von der Knie-OP erholen müsste und wenn nicht alles mit Krücken doppelt so lange dauern würde.
Mit meinem aktuellen Rhythmus würde sie ihren Zug am Südkreuz sicherlich verpassen. Wir müssen uns deshalb damit zufrieden geben, dass ich sie und die Katze nur bis zur Wohnungstür begleite. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sie mit den ganzen Gepäckstücken und der gestressten Katze allein lassen muss. Aber es geht nicht anders. Ich sehe sie die Treppe hinuntergehen, und dann ist es bei mir still. Das Haus fühlt sich plötzlich ganz leer an. Ich halte die Stille nicht lange aus: Ich mache die Lampen und die Musik an und bedauere, dass uns heute niemand beim Küssen erwischt hat.
Vor einigen Monaten sprach mich ein junger Typ mit roten Haaren und pinkem Nagellack bei einer Lesung an. Er habe uns einmal gesehen – meine Freundin und mich –, wie wir uns am Gleis geküsst hätten. Ihm sei es an dem Tag schlecht gegangen, aber diese Szene habe ihm ein Lächeln entlockt. „You two made my day“, sagte er zu mir auf Englisch, obwohl wir uns auf Spanisch unterhielten.
Neulich, als wir an einem Sonntag in einem Café in der Mahlower Straße frühstückten, saß er zufällig am Nebentisch. Ich schaute ihn an und wollte mit meinem Blick sagen: „Hey, wir sind es! Diejenigen, die einmal mit einem Kuss deinen Tag gerettet haben. Weißt du noch?“ Doch er trank weiter Tomatensaft mit einem Strohhalm und schien uns nicht mehr zu erkennen.
Luciana Ferrando
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