berliner szenen: Nich künstlich uffregen
Es ist heiß. Wenn man vom Bahnhof entlang der S-Bahnschienen in die Weite sieht, flimmert die Luft über den Gleisen. Ich mag das. Es ist immer, als beginnt sich in der Ferne alles aufzulösen, was im Moment groß und wichtig ist und womöglich Probleme schafft. Die Anzeige der S-Bahn ist defekt, aber eine Ansage weist uns Fahrgäste darauf hin, dass der Zugverkehr aufgrund eines Polizeieinsatzes unregelmäßig sei, die nächsten beiden Züge würden ausfallen. Man bitte um unser Verständnis.
Wer’s glaubt, denke ich. Ich sehe mich um und meine, dass die anderen Leute auch nicht mehr an die ewig gleichen Erklärungen glauben. Es sind einfach Ausreden, weil die Züge nicht oder sehr verspätet kommen. Niemand glaubt an angebliche „Polizeieinsätze“, „Verzögerungen im Ablauf wegen Gegenständen auf der Strecke“ oder „Schäden an einem Zugteil“.
Ich verlasse den Bahnsteig und beschließe, mir bei einem Bäcker etwas zu trinken zu kaufen.
Drinnen riecht es gut und in der Auslage fliegen die Wespen aufgeregt über den süßen Teilchen. Jetzt will ich auch so eins. Ich mag die Streuselschnecken, wenn sie schön klitsch sind.
Vor mir steht ein Mann. Er bestellt Brötchen verschiedenster Art, aber offenbar stimmen die Schilder nicht, denn die Verkäuferin korrigiert ihn andauernd. „Sesamecke“, sagt sie grad. Der Mann ist schon ein bisschen genervt, stelle ich fest, aber er zeigt auf ein weiteres Brötchen. Sie sieht ihn an und fragt: „Schweizer?“ Jetzt guckt er sie aber entrüstet an: „Wat Schweizer. Ick bin doch keen Schweizer. Ick bin Berliner.“ Die Frau sieht ihn sanft an und sagt: „Ick red von dem Brötchen, juter Mann. Nich künstlich uffregen, ja? Sparen Se sich das für was anderes.“
Ja, denke ich, zum Beispiel für die S-Bahn. Da könnte man sich doch eigentlich mal so ganz unkünstlich aufregen. Isobel Markus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen