berliner szenen: Sonst wirste noch irre hier
Die Stadt ist leer. Also wirklich leer. Die Straßen sind breit, weil keine Autos mehr die Seitenstreifen blockieren und Platz wegnehmen, in der S-Bahn gibt es mehr Plätze als Fahrgäste, beim Bäcker sind morgens keine Schlangen mehr und es gibt genug Laugenbrezeln für alle. Als ich neulich für einen Folgetermin bei meinem Zahnarzt anrief, bekam ich sofort einen Tag in der nächsten Woche vorgeschlagen, sodass ich sagen musste: „Ach, das ist mir eigentlich ein bisschen zu früh. Geht es auch im September?“
Verkehrte Welt, denke ich jetzt und warte an der roten Ampel einer autoleeren Straße. Neben mir stehen zwei Frauen. Die eine mit hoffnungsvollen kurzen Hosen und Flip-Flops sagt zu einer anderen, die mit Jeans und Allwetterjacke eher herbstlich angezogen ist: „Und jetze is die Stadt auch noch so leer, wo alle verreist sind, da kriegste ja Depressionen, wenn’s andauernd regnet.“ Die Herbstfrau nickt, als wäre das nichts Neues. Die Sommerfrau erzählt: „Neulich saß ich zu Hause und hör immer das Meer rauschen. Richtich schön so schwwwww schwwww.“ Sie macht das Meerauschen nach. „Dacht ick, jetzt fängste aber an zu spinnen. War dann aber nur meine Waschmaschine. Da wusst ick, jetzt musste hier aber weg, sonst wirste noch irre.“
„Und? Geht aber nich so vom Finanziellen her, oder?“, fragt die Herbstfrau. „Doch, doch. Fahr jetzt mit Zelt, Bummelzug und meinem lieben, aber öden Nachbarn an die polnische Ostsee und hab fünf Tage Dauersonne gebucht.“ Die Herbstfrau sagt: „Na, wenn das mal was wird.“ Die Sommerfrau nickt bestimmt und sagt: „Muss!“ Es wird grün. Wir gehen los. Die Herbstfrau guckt wie drei Tage Regenwetter, die Sommerfrau läuft mit den Flip-Flops fast in eine Pfütze, lacht und sagt: „Siehste, ick üb schon mal, wie es is, baden zu gehen.“ Isobel Markus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen