berliner szenen: Was ein Live-Erlebnis bedeutet
Ich fasse es nicht. Die Dame vor mir hat die letzte Stehplatzkarte bekommen. Das Foyer des Berliner Ensembles ist schon leer. Es läutet zum dritten Mal – und ich: draußen vor der Tür. „Aber Sie können sich doch die Live-Übertragung im RBB ansehen“, sagt das Theaterpersonal. Leute, denke ich, gerade ihr müsst doch wissen, was ein Live-Erlebnis bedeutet. Wäre Claus Peymann noch Intendant, denke ich weiter, dann wäre an den Seitentreppen zum zweiten Rang kein Einlasspersonal. Dann wäre ich heute über die linke Treppe ins Brechtzimmer gekommen und von dort illegal ins obere Foyer. Und dann runter ins Parkett und schauen, ob irgendwo ein Platz frei bleibt. Aber bei Oliver Reese werden die Karten vor der ersten Treppenstufe kontrolliert. Draußen rieselt leise der Schnee. Es ist kalt und das Solidaritätskonzert gegen Hass und Antisemitismus findet ohne mich statt.
Plan B kommt jetzt zum Einsatz: Ich gehe in der Pause rein. Im Café schaue ich den Live-Stream. Als Katharina Thalbach anfängt, aus Karl Valentins „Der Fremde“ vorzulesen, ist der Akku leer und das Café macht zu. Ich schaue eine gefühlte Unendlichkeit auf die Spree hinunter und zum BE hinüber bis irgendwann Menschen die Treppe runterkommen. Zwei müssen gehen und verraten mir ihre Sitznummern in Reihe 9. Ich gehe rein, setzte mich auf meinen Platz und taue langsam auf.
Jens Harzer, mein absoluter Lieblingsschauspieler, liest Paul Celan. Und Michel Friedman hält ein Rede, die bis ins absolut Innerste vordringt. Und am Schluss kommen die Toten Hosen und singen Erich Kästner. Die Energie, die im Theater entsteht, ist Wahnsinn. Wenn die jeder mitnimmt, denke ich, bei sich abspeichert und dann in Handlung übersetzt, dann stehen überall menschliche Stoppschilder und der Hass hat keine Chance.
Katja Kollmann
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