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berliner szenenLiteraten-Treff im Hinterhof

Meine Nachbarin Sonja aus dem Vorderhaus schreibt ein Buch. Gefühlt wie jeder zweite Mensch in Kreuzkölln. Gestern im Hof weihte sie mich ein. Wir standen an den Mülltonen und sortierten unseren Dreck, wie brave Ber­li­ne­r*in­nen das eben so machen, fein säuberlich in fünf verdreckte Behältnisse.

Sie schreibe seit zwei Monaten daran, sagte Sonja. Der Titel lautet „Eine Mutter für Schraube“. Wer ist Schraube, fragte ich. Ist doch logisch, meinte Sonja. Sie selbst sei Schraube, das sei ein autofiktionaler Text, Schraube sei ihr Alter Ego. Ob ich denn nichts von Literatur verstünde, fragte sie noch und wollte mir ihre Gunst schon wieder entziehen, als ich gerade noch rechtzeitig einwarf, ich würde den Titel ziemlich knuffig finden.

Bedauerlicherweise hatte ich wenig Zeit. Der vor zwei Wochen gebuchte Online-Yogakurs bei Sandy sollte in fünfzehn Minuten beginnen und ich wollte vorher noch duschen. Trotzdem konnte ich nicht anders und stellte die Frage aller Fragen. Sie hätte mich sonst in der Nacht verfolgt. „Worum geht’s denn?“, fragte ich. Sonja war begeistert von meinem kollegialen Interesse, wie sie ausdrücklich mit einem noch nie gezeigten Lächeln betonte, und begann aufgeregt zu erzählen. Leider konnte ich mit dem Plot nicht viel anfangen. Vielleicht, weil es vor allem um die Autowerkstatt ging, in der Sonja arbeitete. Nur so viel wurde mir klar: Wenn ich ihren Redefluss nicht bald eindämmte, würde ich meinen Yogakurs verpassen. Das durfte ich auf keinen Fall riskieren. Sandy war eine Wucht. Mitten im Satz lächelte ich Sonja ein verlegenes „Ciao“ zu und verschwand im Seitenflügel.

Etwas später, als ich mich am Sonnengruß versuchte, fiel mir ein, dass ich selbst ein Buch in der Schublade habe. Das müsste ich mir dringend mal wieder vornehmen.

Henning Brüns

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