berliner szenen: Reisen macht boshaft
Ich befinde mich im Flixbus von Leipzig nach Berlin, um abends auf dem Geburtstag eines Multimillionärs mit zweifelhaftem Ruhm zu singen. Meine Laune ist im Keller, der Busfahrer war gemein zu mir, weil ich was Dummes gefragt habe. Nun sitze ich gekränkt neben einem Herren, der sich die erste Stunde der Reise mit einem Hustenanfall vertrieben hat. Zu meiner Rechten befinden sich zwei sächsische Damen, die wortgewandt jeden Satz mit: „Ja, nee…“, einleiten. Sie sind wohl um die 60. Schwieriges Alter.
Wir halten an einer Raststätte. Ich rauche, weil ich das immer tue, wenn ich darf und kehre auf meinen Platz zurück, die Damen auf meinen Fersen. In heller Vorfreude breiten sie eine absurde Menge eben teuer erstandener Süßigkeiten auf der Ablage vor sich aus. Wir sitzen direkt neben dem Klo. Streng die Form einhaltend beginnen sie nun die Leckereien zu rezensieren: „Das schmeckd mir gut. Das is auch leggor. Das möschte isch au noch gosten.“ Mir wird schlecht.
Beim Kauen halten sie beide Hände auf Brusthöhe vom Körper weg – sie missverstehen die Geste wohl als elegant. Mit frischer Energie startet mein Sitznachbar seinen zweiten Hustenanfall derart aufdringlich, dass ich nicht anders kann, als ihm seine gesundheitlichen Probleme als schiere Bosheit auszulegen. Die Damen sind meiner Meinung. Sie rollen die Augen und schieben missbilligend M&M-Reste von der linken in die rechte Wangentasche. Ein Akt der Degradierung für alle Beteiligten. Jetzt tut mein Nachbar mir leid, weil alle so gemein sind – die Damen, der Busfahrer und ich. Ich beschließe den Bus ab jetzt zu meiden, eine Zugfahrt, die ist schön! Solange es kein 9-Euro-Ticket gibt, jedenfalls. Was für ein widerlicher Gedanke. Vielleicht sollte ich das Reisen aufgeben, es tut mir nicht gut. Tim Mettke
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