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berliner szenenLiebeständel im Akkord

Überall Tauben. Ich fühle mich wie auf der prominenten Piazza San Marco. Geradezu euphorisch. Aber leider nur für ein oder zwei Sekunden. Die berüchtigte Baustelle auf der Karl-Marx-Straße lässt keinen Zweifel daran, wo ich mir gerade die Beine in den Bauch stehe. Nicht im einmaligen Venedig, sondern im einmaligen Neukölln.

Genauer gesagt vor dem Rathaus. Kurz angebunden sagte sie am Telefon: „Lass uns vor dem Rathaus treffen. Ich wohne um die Ecke.“ Wow, dachte ich, ich auch. Doch langsam wundere ich mich: Ist das nicht ein seltsamer Ort für ein erstes Date? Die Menschen haben es eilig, von hier wegzukommen. Sie rennen förmlich an mir vorbei. Niemand beachtet den anderen. Auch mich nicht, selbst wenn ich ihnen im Weg bin, was öfter vorkommt, als mir lieb ist. Alle wollen wonandershin.

Nur ich bleibe glücklos stehen, wo ich stehe, und schaue mich um. Die Beete am Brunnen sind frisch bepflanzt. Die erwähnten Tauben sind begeistert von der Blumenpracht. Ungefähr eine Hundertschaft pickt exzentrisch im tiefschwarzen Mutterboden herum. Zwischendurch baggern sie sich gegenseitig an. Liebeständel im Akkord. Natürlich, der Frühling naht. Apropos, denk ich, meine Verabredung verspätet sich. Beinahe eine Viertelstunde! Ob das noch was wird?

Frustriert sehne ich mich nach einer Bank. Keine zu sehen. Vermutlich Opfer einer Sparmaßnahme, der Rat­hausbrunnen hat schließlich auch kein Wasser. Da fällt mir ein, auf der Piazza San Marco gibt es ebenfalls keine Bänke. Noch eine Gemeinsamkeit. Immerhin. Als es zu regnen beginnt, frage ich mich, womit ich das Elend verdient habe. Mein Smartphone meldet sich zu Wort: „Wo bist du?“ Kein Smiley. Kurz darauf blendet mich ein Foto vom Roten Rathaus im herrlichsten Sonnenschein.

Henning Brüns

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