berliner szenen: Ein anderer Blick auf die Welt
Würdest du Papa jeden Tag besuchen, also wenn er im Heim ist?“, fragt mein Sohn beim Abendessen. Mein Mann geht dieses Jahr in Rente, aber ich hatte bislang noch nicht darüber nachgedacht, ihn in ein Pflegeheim zu geben. Er ist fit und gesund, von ein bisschen Rücken mal abgesehen, und auch noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten. Aber mein Teenager hat ein Freiwilliges Soziales Jahr begonnen, und zwar in einem Altenpflegeheim. In nur wenigen Tagen hat er einen völlig anderen Blick auf die Welt bekommen. Und wir gleich mit.
„Du hast echt einen gechillten Job“, sagte er mir am zweiten Tag. „Du musst nicht um 5 Uhr aufstehen, und körperlich anstrengen tust du dich auch nicht.“ Wenige Tages später hat er raus, was seine neuen Kollegen verdienen („Ganz schön wenig für das, was die da leisten“), und gemerkt, wie anstrengend das Leben ist, wenn man zusätzlich zum Job auch noch Kinder hat („Nach der Arbeit muss sie gleich ihren Sohn von der Kita holen und zum Fußballtraining bringen“). Den Verweis darauf, dass mein Leben als berufstätige Mutter früher auch so war, lässt er nicht gelten: „Du hast noch nie so hart gearbeitet, Mama!“
Kam er zu Schulzeiten nur schwer um Viertel nach sieben aus dem Bett, steht er jetzt um sechs Uhr auf, weil er in der Frühschicht für die Vorbereitung des Frühstücks zuständig ist. Im Flur finde ich einen Zettel: „Herr A.: zwei Scheiben Brot mit Schmierwurst, Kaffee mit Milch, Frau B.: Toast mit Marmelade, Tee mit Zucker“.
Am Sonntag, ich war noch gar nicht richtig wach, brachte er uns den Kaffee ans Bett. Wir haben uns noch nicht so richtig daran gewöhnt, jetzt nicht mehr mit einem dauergenervten Schüler, sondern mit einem angehenden Altenpfleger zusammenzuleben.
Gaby Coldewey
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