berliner szenen: Die Puppen tanzen lassen
Der Edeka ist sehr beliebt, weil er außer dem normalen Sortiment auch viele vegane und biologische Produkte führt.
Die Schlange, in der ich stehe, teilt sich gegen Ende in zwei Stränge, die zu verschiedenen Kassen führen. Ein Mann schlendert an dem Regal mit den Einweggetränkedosen vorbei und stellt sich an eins der kurzen Enden. Er ist lang und eher schmal, ungefähr Mitte 50, hat große Augen und ist auffallend blass. Natürlich wird er sofort zurückgepfiffen, aber anstatt sich kleinlaut nach hinten zu verdrücken, tritt er nur einen Schritt zurück und steht jetzt in einer Art Niemandsland. Von dort fängt er mit klarer deutlicher Stimme an zu schwafeln: „Oho, so so, aha, die Schlange beginnt also nicht hier, sondern da …“
Ein etwas kleinerer und jüngerer Mann mit Maske kommt auf ihn zugeschossen. Er beschimpft den Blasierten unflätig und droht mit Gewalt. Der Angebrüllte labert unbeeindruckt weiter. Das Publikum verfolgt den Hahnenkampf amüsiert und etwas furchtsam. Der Hitzkopf beruhigt sich einen Moment, dann rastet er wieder aus. Der Blasierte verlangt jetzt lautstark den Sicherheitsdienst. Einmal, mehrmals. Doch seine Forderung verpufft in der geballten Antipathie, die ihm entgegen schlägt.
Der Hitzige und ich sind beim Rausgehen auf einer Höhe. „Der Typ hat’s drauf angelegt“, sage ich zu ihm. „Ich bin aber auch drauf angesprungen wie der letzte Depp!“, antwortet er. „Ja, leider“, bestätige ich lächelnd. „Aber das passiert mir nicht noch mal“, sagt er, als er schon an seinem Rad steht und die Maske abnimmt, „daraus habe ich gelernt.“
Und der Blasierte? Fühlt er sich nach geglückter Provokation bestätigt und als einsamer Rufer in der Wüste oder wie jemand, der die Puppen tanzen lassen kann, wie er will? Mich erinnert er an die Schneekönigin von H. C. Andersen. Katrin Schings
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