berliner szenen: Ein Leben in der Wasserwelt
Einmal fuhr ich mit der U-Bahn nach Gropiusstadt, um endlich wieder ins Wasser zu gehen. Ich betrat ein brutalistisches, aber erstaunlich großes Hallenbad voller Menschen am Rande des Lebens. Viele Frauen, eine Handvoll alter Männer, die noch etwas vom Leben wollten, darunter ich und ein, zwei Jüngere mit anatomischen Frühschäden. Alle wollten ein Leben in der Wasserwelt oder einfach gesagt flotte Aquagymnastik nach dem Motto „Was auch immer hilft“.
Zu Beginn saßen wir wie Schulkinder am Beckenrand und warteten auf den Anpfiff. Die Zeiger der einen laufenden Uhr schlichen in Richtung Tod. Die Minuten liefen in die falsche Richtung, die anderen Uhren waren einfach stehengeblieben.
Endlich kam die Vorturnerin aus der Umkleide. Sie trug einen wasserfesten Trainingsanzug aus blauer Ballonseide, eine schnittige Kurzhaarfrisur, an den Füßen graue Crocs ohne Socken. Um ihren schlanken Hals baumelte eine Trillerpfeife. Sie war autoritär und einfühlsam, bestimmt und chaotisch; im Wasser wurde sie aber nie gesehen, jedenfalls nicht von den Teilnehmenden dieser Stunde. Zum Ausgleich kam es wegen ihrer Rechts-links-Schwäche regelmäßig zu Turbulenzen. Was war jetzt rechts, was links?
Mit dem ersten Pfiff ließ sich der Kurs ins Wasser gleiten, was länger dauerte, als man annehmen sollte. Es war fast schon anrührend, wenn man nicht auch selbst betroffen gewesen wäre: Alte Frauen, alte Männer in Schwimmwindeln, die fast ausnahmslos unter Frauennamen wie Belinda oder Vanessa im Handel waren, mühten sich mit Vorsicht in die 1,50 m tiefe Ebene und warteten auf weitere Signale, um sich großflächig zu bewegen. Rudern, ausschwenken, paddeln. Hüpfen und springen. Nach einer lockernden Dreiviertelstunde war der Spaß vorbei. Die Windelliga hielt dicht. René Hamann
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