berliner szenen: Alles wird sehr kompliziert
Aus der Distanz versuchte ich mir vorzustellen, was zwischen den beiden vor sich ging. Ich malte mir aus, dass Lisa wie üblich Mascara aufgelegt hatte. Sie trug ein sonnengelbes Kleid mit Fransen, das ihren Bauch nur unzureichend kaschierte, die dünne braune Jacke hatte sie über den Stuhl gehängt. Sie war über den sechsten Monat hinaus, verbreiterte sich und wurde gleichzeitig unsichtbarer, ein Gespenst unter Gespenstern. Ihr Mann sah sich um, als ob er spürte, dass er von mir beobachtet wurde, oder einfach nach Beruhigung und Standfestigkeit suchend, obwohl er saß, auf diesem praktischen Stuhl in diesem automatischen Restaurant, in dem sich das Glas Wasser auf Wunsch von selbst füllte, wie beim Zahnarzt.
Ein schönes Glas, bauchig, abgerundet, formschön, wie der Körper einer makellosen Frau. Er hatte sich immer von Glas angezogen gefühlt, überlegte ich, Trinkgläser, gläserne Frauen, gläserne Gedanken, die sich durch die Luft drehten, aber die meisten Frauen in diesem Szenerestaurant waren seltsam gekleidet. Auch die Männer waren überwiegend in Alltagsuniformen aufgekreuzt: Jeans, dunkle Hemden, weiße oder dunkle Turnschuhe mit weißen Sohlen.
Vielleicht ahnte er, überlegte ich in seinem Rücken, meine Anwesenheit, vielleicht wusste er, was damals hinter seinem Rücken geschah zwischen der jetzt Schwangeren und mir, doch klar war das alles nicht. Es war am Ende alles komplizierter. Und jetzt sollte es noch komplizierter werden: das Leben. Die Aussichten. Die Zukunft. Ein neues Leben, das sich aufdrängte, erst ihr, dann ihm. Ein neues Leben, das seine Rechte einfordern würde, das Raum fordern würde, Aufmerksamkeit, Zeit, Energie, Geld, das Produkt einer Nacht, das ein ganzes Leben kosten wird. Ich sollte einen Tranquilizer bestellen, dachte ich.
René Hamann
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