berliner szenen: Fabelwesen am Müggelsee
Bei den Motorbootgeräuschen im Hintergrund könnte ich gleich einschlafen. Sie erinnern mich an Rasenmähergeräusche, immer präsent zur Siesta-Zeit in den Sommern meiner Kindheit.
Es ist Sonntag, ich bin zum Müggelsee geradelt, sitze unter Kiefern (ich liebe ihren Duft so sehr), esse mein Brötchen und schaue mich um. Neben mir spielen drei Kinder und reden dabei eine Fremdsprache. Die drei Frauen, die bei ihnen auf der Wiese liegen, massieren einander. Ab und zu lachen sie, eine ist schwanger. Sie tragen den gleichen Carré-Schnitt und sehen sich ähnlich. Es ist eine Picknickszene wie aus einem alten Film.
Ein Pärchen kuschelt auf einer roten Decke, es sind nur ihre tätowierten Arme zu sehen.
Weiter weg spielen zwei Männer und ein Mops Frisbee. „Charly!“, ruft einer der Männer, wenn der Hund mit dem Frisbee in eine andere Richtung rennt.
Als die Sonne untergeht, packe ich meine Sachen zusammen und mache mich auf den Rückweg nach Neukölln. Kurz bevor ich den See hinter mir lasse, fotografiere ich das Lichtflimmern im Wasser. Auf einmal steht vor mir eine junge Frau im Gegenlicht. Sie befreit sich von ihren Schuhen und macht ein paar Schritte ins Wasser. Das T-Shirt hängt sie an einen Baumast, Hose und Unterwäsche folgen. Sie tut es langsam, alles ist still, ich bekomme das Gefühl, vor einem Fabelwesen zu stehen.
Sie springt in den See, verschwindet für einige Sekunden, taucht wieder auf und dreht sich zu mir. „Ist es zu kalt?“, frage ich, um das Schweigen zu brechen. Sie schüttelt den Kopf. „Komm“, höre ich plötzlich. „Was?“. „Komm zu mir“, sagt sie. „Und wenn sie doch eine Meerjungfrau ist und ich Ulysses?“, geht es mir durch den Kopf. „Ich komme“, antworte ich und fange an, mich auszuziehen.
Luciana Ferrando
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen