berliner szenen: Großes Kino im Warteraum
Elf Menschen sitzen im Wartezimmer. Neun von ihnen tragen Turnschuhe, neun gucken auf das Display ihres Telefons. Auf einen Mann trifft weder das eine noch das andere zu. Er sieht aus wie George Clooney, der einen abgeklärten Finanzmakler spielt. Sein Blick scheint nach innen gerichtet, kein Mienenspiel lässt eine Deutung zu. Die junge Frau neben ihm könnte seine Tochter sein oder seine Frau, im Film vielleicht eine modebewusste arabische Jungunternehmerin. Sie guckt ihn besorgt an, berührt sein Knie – keine Reaktion. Ein kurzer Blick auf ihr Smartphone, zurück zu ihm, als dürfte ihr nicht die kleinste Veränderung in seinem Gesicht entgehen – keine Reaktion. Hat er Schmerzen? Nervt ihn ihr dramatischer Augenaufschlag? Die Atmosphäre zwischen den beiden wirkt extrem spannungsgeladen, zum Glück sorgt das kleine Mädchen im Wartezimmer für Ablenkung.
Sie erklärt ihren Eltern und den anderen Anwesenden gestenreich, wo es ihr wehtut und was sie gleich dem Arzt vorführen will. Die Mutter verdreht die Augen; der Vater scheint den Arztbesuch befürwortet zu haben, jetzt zuckt er mit den Schultern. Als sie aufgerufen werden, guckt die Jungunternehmerin noch dramatischer, ihre Fingernägel auf dem Handy-Display machen vor Ungeduld pickende Geräusche – Mutter und Tochter dürfen trotzdem zuerst ins Sprechzimmer. Nach höchstens einer Minute kommen sie wieder heraus. Die Tochter hält triumphierend ein Fläschchen mit Tropfen hoch, das der Arzt ihr gegeben hat. „Ich hab ihm gleich gesagt, dass sie eine Prinzessin auf der Erbse ist“, flüstert die Frau ihrem Mann zu. Die Tochter scheint sich nicht beschämt zu fühlen durch diese Bemerkung. Sie wiederholt selbstbewusst, was der Arzt dazu gesagt hat: „Aber immerhin eine Prinzessin.“ Claudia Ingenhoven
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