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berliner szenenVersuchung auf dem Balkon

Da ist er wieder. Er taucht immer auf, wenn ich gerade nicht mit ihm rechne und keine Zeit habe, weil ich pünktlich bei meiner Arbeit erscheinen oder meine Tochter zur Schule bringen muss: der Würstchenmann. Der Würstchenmann ist ein älterer Herr, der hinter meinem Haus lebt und den Hunden aus der Nachbarschaft Würstchen von seinem Balkon zuwirft. Ich habe ihn noch nie auf der Straße getroffen und auch noch nie auf seinem Balkon sitzen sehen. Er scheint ihn nur zu betreten, um nach Hunden zu sehen, denen er mit seinen Würstchen eine Freude bereiten kann.

Für meine Hündinnen ist er dadurch so etwas wie Gott. Wann immer sie an seinem Balkon vorbeikommen, bleiben sie sitzen und starren sehnsüchtig hinauf. Am Anfang habe ich noch über seine Tierliebe geschmunzelt, dachte, ich könne dem alten Mann ja schlecht seine Freude nehmen, und ließ ihn ohne Protest gewähren. Seit die eine unserer beiden Hündinnen aber altersbedingt unter Magenproblemen leidet und nur ihr gewohntes Futter verträgt, sind die täglichen Hundespaziergänge hinter unserem Haus zum Spießrutenlauf geworden. Sobald ich die Hündinnen ableine, rennen sie zu seinem Balkon.

Seit Neuestem hat der Würstchenmann auch ein Faible für Kinder: „Magst du Musik?“, fragt er meine Tochter auf ihrem Weg zur Schule. Ich schiele auf mein Handy. Wir haben genau drei Minuten. „Joa“, antwortet meine Tochter gedehnt und sieht ihn abwartend an. Er geht in seine Wohnung, kommt mit einer Blechdose mit Hertha-Logo drauf wieder und ruft: „Für dich, Kleine, fang!“ Meine Tochter fängt die Blechdose auf, bedankt sich und bedient die Kurbel. Die deutsche Nationalhymne ertönt. Ich schneide eine Grimasse und denke: Das kann ja noch heiter werden.

Eva-Lena Lörzer

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