berliner szenen: So viele Menschen zu Besuch
An diesem Samstag trägt M. blaue Shorts, die ihm S. vor ein paar Tagen mitgebracht hatte. In den Shorts sieht er besser aus als in den dunklen Anzughosen, die er sonst immer anhat. Seine Beine stecken wie immer in so violetten Dingern aus Plastik, die „Orthese“ heißen und an die Beinkleider einer Ritterrüstung erinnern.
Die Blumenkästen auf dem Balkon hatte D. eingerichtet. Immer wenn ich komme, fragt M., ob die Pflanzen genug Wasser haben, und ich prüfe, ob die Erde feucht ist. Seine Finger können das nicht mehr feststellen wegen der Polyneuropathie, das ist eine unheilbare Krankheit. Eigentlich ist die Erde immer feucht.
Und ich sage, gieß morgens immer ein bisschen, und er versucht es sich zu merken. Dann mach ich Hanftee und wir spielen wieder Schach. Sein Schachbrett stammt noch aus der DDR und ist sehr schön.
Eben hatte er noch gesagt, es ginge ihm heute schlecht, nun spielt er aber unerwartet gut und gewinnt die ersten beiden Spiele. Dann kommt H. mit einem Stapel Zeitungen vorbei. Vor 40 Jahren in Gießen war H. M.s Nachfolger in der WG gewesen. Außerdem ist er, glaube ich, Busfahrer, taz-Genossenschaftler und bei den Linken engagiert. Weil er sich nicht für Schach interessiert, unterhalten wir uns über Politik und Medien. Und spielen weiter, nachdem er gegangen ist.
In der ausgeglichenen Mitte des dritten Spiels tritt der Schach spielende Pfleger auf. Ich habe großen Respekt vor ihm, weil er im Verein spielt, und bin froh, dass unser Spiel nicht so trashig aussieht wie sonst. Eine Weile bespricht der Pfleger die Stellung. Wenn das, dann das – geübt schiebt er die Figuren hin und her und macht sich dann an die Arbeit.
Während er M.s Verband wechselt, rauche ich auf dem Balkon. Mit Müh und Not gelingt mir später noch der Ausgleich. Detlef Kuhlbrodt
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