berliner szenen: Das wird man schwer wieder los
Ich sitze im S-Bahnhof in der Sonne. Es ist Montagmorgen, und ich ärgere mich, weil ich gerade ganz knapp die S-Bahn verpasst habe. Die Anzeige zeigt noch 9 Minuten bis zur nächsten Bahn, und ich weiß, ich werde damit zu spät zu meinem Termin kommen. Auf dem Sitz neben mir liegt ein Buch mit dem Titel „Murphys Gesetz“. Ein Stempel auf dem Schnitt zeigt an, dass es sich um ein preisreduziertes Mängelexemplar handelt. Ich lache wegen der lustigen Symbolik kurz in mich hinein, mache ein Foto und schaue auf mein Handy, während sich eine Frau auf die andere Seite des Buches setzt.
Als die S-Bahn einfährt, stehe ich auf und gehe etwas weiter nach vorn an die Bahnsteigkante. Die Frau kommt mir hinterher, tippt mir auf die Schulter und fragt: „Entschuldigung, ist das Ihr Buch da?“ Sie zeigt auf Murphy’s Law. Ich schüttle den Kopf: „Nein, das ist nicht meins. Es lag da schon.“
„Ach“, sagt sie erfreut, „na, dann nehme ich es mir mit.“
In der S-Bahn stehe ich an der Tür und beobachte, wie sie auf ihrem Platz durch die Seiten blättert, hier und da ein paar Abschnitte anliest und das Buch dann unauffällig auf den Platz neben sich legt. Ihre Augen über der bunt bedruckten Maske schauen betont harmlos aus dem Fenster.
Nach zwei Stationen steht sie auf, und ein Junge ruft ihr nach wenigen Schritten hinterher: „Hallo, Sie! Sie haben Ihr Buch vergessen.“ Er hält es ihr entgegen. Die Frau runzelt die Augenbrauen, nimmt das Buch und bedankt sich. Neben mir an der Tür sieht sie mich an, hält das Buch hoch und sagt:
„Das wird man wohl schwer wieder los.“
Ich lache und sage: „Liegt vielleicht am Inhalt.“
Sie zuckt mit den Achseln.
„Na ja“, sagt sie, „ich muss noch zweimal umsteigen. Irgendwann wird es klappen.“
Als sie aussteigt, wünsche ich ihr noch viel Glück dabei.
Isobel Markus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen