berliner szenen: Dann fahre ich einfach hin
Als ich meinen Vater anrufe, meint er aufgebracht: „Langsam sterben in Deutschland vermutlich mehr Menschen durch die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona als an den unmittelbaren Folgen der Infektion.“ Auf meine irritierte Nachfrage, was er meine, sagt er: „Weil viele Patienten mit Vorerkrankungen sich zu lange nicht zum Arzt getraut haben. Oder nicht wissen, wie sie an einen Termin kommen sollen.“
Vor der „Corontäne“ hatte mein Vater wegen seiner Herzprobleme einen Termin für eine nuklearmedizinische Untersuchung. Während des Lockdowns aber war es ihm zu heikel, ihn wahrzunehmen. Nun war er bei seiner Kardiologin und hat einen neuen Überweisungsschein für die Untersuchung erhalten, erreicht die Praxis aber nicht: Eine Stunde habe er heute in der Warteschleife verbracht, erzählt er und meint: „Wenn ich die morgen nicht erreiche, fahre ich einfach hin!“
Ich rufe: „Bloß nicht!“ und erzähle ihm von meiner Erfahrung am Vortag: Weil meine Tochter Magenkrämpfe und Fieber hatte und ich für meine Arbeit eine Krankschreibung brauchte, war ich mit ihr nach erfolglosen Versuchen, die Kinderarztpraxis telefonisch zu erreichen, einfach hingefahren. An der Tür wurde ich mit dem kranken Kind auf dem Arm nach einer Stunde Wartezeit belehrt, dass man ohne Termin nicht mehr rankäme. Die Termine seien per Mail buchbar.
Daher rate ich meinem Vater: „Guck, ob du online einen Termin bei der Praxis buchen kannst. Oder über eine Ärzteplattform eine andere Praxis findest. Du solltest eh nicht unnötig durch die Stadt fahren.“ Am nächsten Vormittag schreibt er: „Ich habe mich eben auf einer Plattform registrieren lassen und jetzt sogar einen Termin. Aber was machen denn alte Menschen, die kein Internet haben?“ Eva-Lena Lörzer
Lesen gegen das Patriarchat
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme – frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen