berliner szenen: Die einzige Jüdin der Klasse
Mendel Schenkein“ steht auf einem Stolperstein in meiner Umgebung. Oft nehme ich mir vor, nachzuschauen, ob ich etwas über die Leben der Menschen finde, deren Namen in meine Wege eingraviert sind. Selten tue ich es. Über den Uhrmacher Mendel Schenkein ist erst einmal nicht viel zu finden. Aber er hatte zwei Kinder.
Ich folge der Spur seiner Tochter Erna und finde ein Shoah-Foundation-Video, in dem sie ihre Lebensgeschichte erzählt. Erna Trocola, wie sie später hieß, ist eine konzentrierte Erzählerin mit einer sortierten Erinnerung und einem offenen Blick. Zeitweise hat sie für den britischen Geheimdienst gearbeitet. Ich lausche ihr auf dem Balkon, wie sie vom Aufwachsen eine Straße weiter erzählt. Wie ihre Mutter sie im Kinderwagen vor die Tür der Uhrenwerkstatt stellte und Käthe, ein Mädchen aus derselben Straße, fragte, ob sie das Baby auf einen Spaziergang mitnehmen dürfe. Wie sie Teil von Käthes Familie wurde und auch dort „bedingungslose Liebe“ erfuhr. Wie sie als einzige Jüdin der Klasse erst die Grundschule, dann das Lyzeum besuchte, ohne dass sie einen Unterschied zwischen sich und den anderen Kindern wahrnahm. Wie sie nach den Nürnberger Rassegesetzen in die Jüdische Schule in der Großen Hamburger Straße in Mitte wechselte. Wie schon davor der erste Boykott kam, wie ihn niemand ernst genommen habe, wie alle dachten, das werde schnell wieder vorbeigehen, genauso wie Hitler.
In der Reichspogromnacht blieb der Laden der Familie verschont. Der Hausmeister, genannt „der Kommunist“, hatte sich davor gestellt. Letztlich übernahm ihn ein Geigenbauer. Erna wäre gerne Konzertpianistin geworden. Aber „die Umstände“. Wir sind in der Mitte des Videos angekommen. Der Vater lebt noch. Sie liebt ihn sehr. Es gibt noch Hoffnung. Astrid Kaminski
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