berliner szenen: Am seidenen Faden
Am Telefon hatte K. gesagt, sie hätte mehrmals vergeblich versucht, M. zu erreichen, ich hatte auch schon ein komisches Gefühl am Morgen gehabt. Wir stellen uns vor, er wäre wieder im Krankenhaus gelandet und sein Akku wäre alle und sind ein bisschen ärgerlich, weil wir ihn doch besuchen wollten. Ich fahre gleich hin, weil das der Anker im Nabel meines geplanten Wochenendes ist, flutsche in das Hochhaus, aus dem eine alte Frau gerade geht. Der Fahrstuhl ist noch da, und das gelbe Flurlicht geht an, wenn man wieder rauskommt. Entferntes Stöhnen aus der Wohnung, juchhu, M. ist doch da und begrüßt mich wie immer mit einem leicht opahaften „Wie schön, dass du gekommen bist.“
Wir spielen Schach, er spielt mit Handschuhen, weil die Hände wegen seiner Neuropathie ständig frieren. Beim Setzen stößt er oft andere Figuren um und weiß dann wieder nicht, wo die bewegte Figur gestanden hatte. Anstatt mir Ärger zu machen, übersieht er die einfachsten Sachen, gibt irgendwann auf und wir ärgern uns beide. Ehrlich gesagt freue ich mich aber auch über meinen Sieg.
K. kommt doch noch vorbei. Wir kiffen noch kurz, en passant sozusagen. Sie muss aufpassen, weil sie sensibel reagiert und noch zu tun hat. Sie erzählt von der Weihnachtsfeier in der Schule, dem engagierten Kollegen, einem trockenem Alkoholiker, der ein großartiges Musikstudio im Keller eingerichtet hatte, und wie sie dort gefeiert hatten.
M. sagt, dass er nächste Woche wohl wieder ins Krankenhaus muss, unter dem Verband könne man den Knochen schon sehen. Sein rechtes Bein hängt sozusagen an einem seidenen Faden. Er hat Angst, aber auch nicht so wahnsinnig, und ein paar Tage später sagt er, dass über Weihnachten doch kein Bett frei sei. „Das passt mir auch besser.“
Detlef Kuhlbrodt
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