berliner szenen: Engagierter unterwegs zu Netto
M. ruft an. Ob ich zufällig bei Netto vorbeikäme. Was für eine Frage! Ob ich ihm helfen könne, Geld zu ziehen bei dem Automaten am Kiosk Prinzenstraße. Ich sage, du weißt doch, dass ich jeden Tag in den Supermarkt gehe; sag mir doch einfach, was du brauchst, dann bring ich es vorbei. Natürlich dreht er ein bisschen durch vor Langeweile. Ohne fremde Hilfe kommt er mit seinem Rollstuhl nicht raus, die Schwelle an der Wohnungstür ist zu hoch, elf Stockwerke drücken auf die Zimmerdecke. Der Radius, in dem er noch agieren kann, wird stetig kleiner, er ist wie die Maus in der kleinen Geschichte von Kafka. Mein Freund zeigt aber, um in die Betreuerperspektive zu wechseln, auch kein sonderliches Interesse, regelmäßig zu üben, Muskeln aufbauen wie die Jüngeren mit ähnlichen Symptomen, die in dieser Gegend mit ihren Rollstühlen und Rollatoren engagierter unterwegs sind, um sich selbst ihr Plastikbier bei Netto besorgen zu können.
Mein Vorschlag überfordert ihn, er sagt, ich bin jetzt gestresst und kann dir das nicht sagen. Genervt stell ich mir vor, wie ich M. in den Netto schiebe, wie wir Joghurt, Tomaten und Kekse kaufen und er mich dann, als wenn es ihm zufällig eingefallen wäre, darum bittet, ihm diesen Scheiß-Rosé-Sekt zu reichen und ich streng Nö sage. Stunden später schiebe ich ihn zum U-Bahnhhof Prinzenstraße, ziehe Geld für ihn, ärgere mich über die 6-Euro-Gebühr, die der Automat kassiert. Am Kiosk kauft er Tabak, Zigaretten, die konkret, die Junge Welt, die taz, die FAZ, die BZ, sechs Dosen und eine Flasche Sekt, macht 48,90 Euro. Er setzt sich ans Fenster des Kiosks und beobachtet das Geschehen. Hier fühlt er sich wohl, es ist auch schön, ich hab nur keine Lust, ihm beim Trinken Gesellschaft leisten, und gehe, ein bisschen traurig, ein bisschen genervt.
Detlef Kuhlbrodt
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