berliner szenen: Bahre aus Bindfaden und Socke
Es ist ein regnerischer, kalter Abend im Advent, als ich mit dem Fahrrad zum Sport fahre. Da klingelt mein Handy, es ist das Kind. „Mir ist ein Buch hinter die Heizung gefallen!“, höre ich seine vorwurfsvolle Stimme. „Ich lasse Sport ausfallen und komme sofort“, sage ich betont ironisch, während ich mein Rad vor der Turnhalle anschließe. „Äh, Mama, sorry, aber kannst du mir nachher helfen?“, fragt es versöhnlich. Ich sichere das zu.
Das ganze Ausmaß des Dramas erkenne ich erst, als ich nach Hause komme. Der Heizkörper ist sehr nah an der Wand. Direkt darunter laufen Rohre, seitlich gibt es Metallstreben zur Befestigung. Kein Rankommen. Nun könnte man denken: „Na gut, dann bleibt’s halt erst mal da.“ Aber so einfach ist es nicht. Denn es ist nicht irgendein Buch, sondern „24 Tage bis Weihnachten“, das bei uns zum Adventsritual gehört. Das muss vorgelesen werden, jeden Abend, „sonst ist nicht Advent!“. Und da die berufstätige Mutter sowieso schon ein schlechtes Gewissen hat, weil es im Dezember im Büro meist später wird, lässt sie sich gern auf allabendliche fünf Adventsminuten ein. Aber dazu brauchen wir das Buch.
„Ist ja voll staubig bei uns“, sagt das Kind. Nun, wenn man hinter der Heizung herumfuhrwerkt, wirbelt das eben Staub auf. Das Kind ist hausstauballergischer Asthmatiker und braucht jetzt sofort sein Notfallspray. Notfall ist das Stichwort, was mich aus meinen Gedanken reißt. „Ich rette das Buch, du machst den Abwasch“, lege ich fest. Nach 30 vergeblichen Minuten mit Staubwedel, Zollstock und anderen langen Gegenständen baue ich eine Rettungsbahre aus Bindfaden und Wollsocke, mit der ich das Buch berge. Ich sauge noch Staub, wische den Fußboden feucht und lüfte das Zimmer. Hausaufgaben? Wäsche? Egal. Die Tage bis Weihnachten sind gerettet.
Gaby Coldewey
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