berliner szenen: Alltäglich doppeltes Leben
Manchmal fühle ich mich etwas schizophren: Morgens, nachmittags und abends bin ich darum bemüht, mich einwandfrei zu benehmen, um meiner Tochter ein Vorbild zu sein. Denn etwas zu predigen, es aber nicht selbst vorzuleben, habe ich gemerkt, führt einfach zu nichts: Kinder lernen über Nachahmung und orientieren sich vor allem am Verhalten der Eltern. Also esse ich morgens mit meiner Tochter Haferflocken mit Obst, koche abends ausgewogen, achte darauf, nicht bei Rot zu gehen, hebe allen Müll am Straßenrand auf und antworte auf ihre Fragen nach dem Inhalt des Zigarettenautomaten um die Ecke nur, dass sich darin nichts Gutes befindet.
Sobald ich sie aber verabschiedet habe, stecke ich mir eine Zigarette an und renne los, zur Not über rote Ampeln. Meine Zigarettenstummel landen nicht selten auf dem Gehweg. Während der Arbeitszeit ernähre ich mich von Schokolade oder anderem ungesunden Zeug. Nachts setze ich mich oft mit einem Bier auf eine Parkbank und klappe den Laptop auf. Dabei hoffe ich immer, nicht von bekannten Eltern gesehen zu werden: Ich würde mich bei der nächsten Begegnung mit den Kindern in meiner Rollenmodell-Performance ertappt fühlen.
Neulich ist es dann passiert: Ich saß um ein Uhr morgens mit Laptop, Zigarette und Bierflasche in den Händen an einer Bushaltestelle, als eine Radfahrerin scharf abbremste. Als ich erkannte, dass es sich um eine Mutter aus meiner Straße handelt, war es bereits zu spät, Zigarette und Bier zu verstecken. Ich murmelte: „Jetzt hast du mich bei meinem Doppelleben erwischt!“ Sie aber erklärte nur: „Meins hat sich vor einer Woche getrennt.“ Dann erzählte sie die Geschichte ihrer Affäre und endete: „Das Traurigste ist, dass das Kind ihn vermisst. Für ihn gehörten die Treffen zum Alltag.“ Eva-Lena Lörzer
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