berliner szenen: Die Frage ist: Können Hunde reden?
Heute ist nicht mein Tag. Gleich nach dem Aufstehen erfahre ich, dass eine Bekannte verstorben ist. Auf der Arbeit eröffnet mir meine Chefin, dass sie nicht garantieren könne, meinen Vertrag zu verlängern: er läuft in wenigen Wochen aus.
Auf der Fahrt nach Hause endet die U-Bahn bereits am Theodor-Heuss-Platz. Ich steige aus und setze mich gedankenverloren auf eine Bank. Ein etwa Zwanzigjähriger nimmt neben mir Platz und bittet mich mit quäkender Stimme um Feuer. Ich erkläre ihm, dass ich kein Feuerzeug habe.
Er steht auf und stellt sich vor mich. Trotz Dunkelheit trägt er eine dicke Sonnenbrille, seine Bewegungen sind hastig. Er beugt sich zu mir herunter, nimmt seine Brille ab, reißt seine Augen auf und fragt: „Habe ich große Pupillen? Ich bin seit zwei Tagen wach!“
Ich ignoriere ihn. Eine alte Frau stellt sich zu uns und sagt: „Junger Mann, darf ich Sie mal was fragen?“ Er weicht zurück. „Hau ab! Ich hab keinen Bock, mit Fremden zu quatschen.“ Sie murmelt etwas und geht weg. Er zischt: „Berlin ist doch voller Irrer, Alte.“ Sie kommt zurück und sagt: „Der Herr spricht also doch. Ich wollte wissen: Können Hunde reden?“ Er ruft etwas aggressiver: „Hau ab!“ Ich finde, sie hat so viel Unhöflichkeit nicht verdient, und antworte an seiner Stelle: „Natürlich können Hunde sprechen. Nur nicht unsere Sprache.“ Sie betrachtet mich kurz und verschwindet dann aus meinem Blickfeld.
Der Mann starrt mich an und fragt dann: „Bist du verheiratet?“ Ich strecke ihm wortlos meine rechte Hand entgegen und deute auf den Ehering meiner Urgroßmutter. Er macht auf dem Absatz kehrt. Die U-Bahn fährt ein. Beim Einsteigen steht die Frau wieder neben mir und fragt: „Wenn Hunde sprechen können, was unterscheidet sie dann vom Menschen?“ Ich zucke mit den Schultern und denke: Irgendwie bin ich heute echt im falschen Film.
Eva-Lena Lörzer
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