berliner szenen: Sonntags normal laut quatschen
Allgemein gilt im Kino: Mit der Popcorntüte zu rascheln geht in Ordnung, ein quengeliges Baby mit dabei zu haben eher nicht. Eine besondere Erfahrung ist da der Gang ins sogenannte Kinderwagenkino im Friedrichshainer Lichtspielhaus „B Ware“. Hier herrschen andere Regeln: Babys mit in die Vorführung zu nehmen, wird geradezu erwünscht, und wer selber keines mit dabeihat, sollte das Plärren eines Kleinkindes besser ohne vernehmbares Seufzen erdulden. Maximal darf man gegen eventuell aufkommenden Kinderlärm mit einem besonders lauten Griff in die eigene Popcorntüte antworten.
Der Effekt ist interessant: Man kommt erst gar nicht auf die Idee, sich zumindest innerlich über Babygeräusche aufzuregen, eicht ganz automatisch seine Toleranzschwelle auf die allerhöchste Stufe und vermag so den Film tatsächlich auch dann zu genießen, wenn sich um einen herum zig Kleinkinder im Ausnahmezustand befinden.
So eine Kinderwagenkinovorstellung ist somit so etwas wie eine Grundübung zur Neujustierung gesellschaftlicher Muster. Etwas Ähnliches gibt es auch in einer Sauna in Prenzlauer Berg. Wo man normalerweise in Berliner Saunen schweigend vor sich hin zu schwitzen hat, darf man in dieser quatschen, rumblödeln, lachen und sein Bier trinken. Geht auch. Macht sogar Spaß. Auch in der „AGB“ in Kreuzberg, die seit Kurzem zusätzlich am Sonntag besuchbar ist, geht es an diesem Wochentag für Bibliotheksverhältnisse hoch her. Sonntags ist es in der AGB ausdrücklich erlaubt, laut beziehungsweise normal zu reden. Niemand muss flüstern, weil er sich sonst den Rüffel eines lernenden Studenten einholen würde.
Bleibt die Erkenntnis: Althergebrachte Konventionen können durchaus neu definiert werden, ohne dass dabei gleich das Abendland untergeht. Andreas Hartmann
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