berliner szenen: Nur ein verirrter Mampfer
An einem Novemberabend treffe ich mich mit einem guten Freund vor dem Central Kino. Gerade ist „Lady MacBeth“ angelaufen. Die Pressestimmen auf dem Plakat lassen mich das neu interpretierte Drama mit ambivalentem Interesse erwarten: „Sex und Lügen im Korsett“ oder „Als hätte Hitchcock Emily Brontës ‚Wuthering Heights‘ verfilmt“.
Mein Freund ist ein Kinoliebhaber und Filmkenner und hat ein gutes Gefühl, also habe ich auch eins. Das ist der Vorteil, mit ihm ins Kino zu gehen. Der Nachteil fällt mir jetzt auch wieder ein, denn ich habe Hunger und würde gerne ein paar Nachos mit warmer Käsesoße in den Saal nehmen. Ich kenne ihn mittlerweile seit Jahren und weiß, dass ihn nichts auf der Welt so irrational wütend macht wie lautes Gekaue und Geschnurpse während eines Kinofilms.
Etwas später verfluche ich ihn dafür, denn mein lautes Magenknurren bei dieser besonders stillen Tragödie ist mindestens genauso störend und obendrein peinlich für mich. Es ist nicht so, als hätte ich kein Verständnis für ihn. Neulich haben wir uns den neuen „Blade Runner“ auf einer angemessen gigantischen Leinwand angeschaut. So viel wie in diesem Kinosaal wurde höchstens noch in Ferreris Klassiker „Das große Fressen“ verschlungen. Es schien aber niemanden außer uns zu stören. Im Central scheint das Publikum die Einstellung meines Freundes gegenüber Kinoessern, -hustern und -atmenden zu teilen. Nur ein verirrter Mampfer sitzt eine Reihe hinter uns. Eine benachbarte Dame hat sich gerade zum dritten Mal entnervt umgedreht, als mein Freund aufsteht und sich fünf Reihen weiter nach vorn setzt. Der Mampfer tut mir etwas leid, er stößt auf so viel Antipathie in dem kleinen Kinosaal. Er hört auf zu mampfen. Und ich merke etwas widerwillig, dass ich ihm dafür sehr dankbar bin. Marlene Militz
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