berliner szenen: Mehringdamm Vöglein, such dein Nest
Ich fahre selten mit der U-Bahn, und vor allem nicht so früh, aber um acht Uhr morgens durch die halbe Stadt zu radeln packe ich erst recht nicht.
Also ist der Schock relativ groß. So viele Leute! Das Schlimmste aber ist, dass ich dichtgedrängt zwischen den Leuten stehen muss. Dabei bin ich doch alt und hab Rücken. Ich finde das ungerecht: Die Leute siezen mich und wollen nicht mehr mit mir ficken. Da können sie wenigstens für mich aufstehen. Es muss doch auch irgendeinen Vorteil geben. Aber Pustekuchen!
Jetzt hätte ich gute Lust, so eine zornige Kolumne für Zeit, Welt oder Tagesspiegel zu verfassen – die besten Kotzeimer für verbitterte Alte, die jeder siezt und keiner fickt und für die dennoch niemand aufsteht: „Wie scheiße sind doch alle außer mir.“
Ich spähe wie ein Adler mit Gleitsicht, damit ich irgendwann „Reise nach Jerusalem“-mäßig auf einen freien Platz hopsen kann. Zentrale Umsteigestationen bieten dabei die größte Chance.
Mehringdamm also muss es klappen, sonst wird es schwierig. Möckernbrücke ist die Fluktuation geringer. Gehe ich Mehringdamm leer aus, dann wird es heißen: „Wer jetzt kein’ Platz hat, bekommt keinen mehr …“ Das passt immerhin zur Jahreszeit.
Harharhar! Auch Umstehende versuchen ihr Glück, doch ich bin schneller. Rabiat wie ein schottischer Innenverteidiger hechte ich resolut in die entstandene Lücke. Und sitze. Frech griene ich die Unglücklichen an, die langsamer oder schwächer waren. Das ist Darwinismus pur.
In Rumänien ist das Spiel übrigens unter dem Namen „Vöglein, such dein Nest“ bekannt. Und da unter verschiedenen Herkunftsvarianten für die „Reise nach Jerusalem“ auch die eine oder andere zu finden ist, die man den miesen Taten meiner Vorfahren zuschreibt, löse ich nun einen Schokokuss und finde mein Nest. Das gefällt mir eh besser.
Uli Hannemann
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