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berliner szenenJürgen Laarmann liest

REINGOLD

Wären wir in London, wäre Jürgen Laarmann berühmt wie Irving Welsh, und hippe Magazine könnten sich kaum einkriegen vor Texten von und über ihn. Sind wir aber nicht. Deshalb schreibt Jürgen Laarmann im Entscheiderblatt 030 seine Kolumnen, hat seine Homepage www.jlfrontpage.de, und wenn er Lesungen macht, wie am Sonntag in der Bar Reingold, wäre es maßlose Übertreibung, zu behaupten, es sei voll gewesen. Fünf einarmige Banditen hätten die Zahl der Gäste an ihren Fingern abzählen können.

Läden wie das Reingold gibt es auch nur, weil wir in Berlin sind und nicht in London. Eigentlich würde das Reingold gerne Broker und Start-up-Unternehmer als Gäste haben, da die aber noch fehlen, nimmt es mit allen anderen vorlieb. Durch das große Wandgemälde am Kopfende des Raums, das Katia und Klaus Mann zeigt und auf eine Tapete aus den Seiten des Romans „Mephisto“ gemalt ist, versucht es, sich ein bisschen vom Glamour der Vergangenheit abzuholen.

Wirklich glamourös wird das Reingold allerdings erst aussehen, wenn Lesungen wie die von Laarmann in das Leder der Hocker eingesunken sind und man sich vom Heute als legendärem Gestern erzählen wird. Und wahrscheinlich wird genau dann renoviert. Noch hat das Reingold aber keine Geschichte, im Unterschied zu Jürgen Laarmann.

Wäre Jürgen Laarmann schwarz, hätte er einen riesigen Afro und wäre eine beeindruckende Gestalt. So trägt er einen riesigen Euro und ist nicht minder beeindruckend. Wobei seine Stimme in merkwürdiger Art und Weise nach Synchronisation ruft, erinnert sie doch an Ernie aus der Sesamstraße und passt nicht recht zu Laarmanns massiger Gestalt. Vier Texte trug er vor, entnommen dem großen Buch, an dem er arbeitet, das im Frühjahr 2001 erscheinen soll und den Titel „The eternal rules of nightlife“ tragen wird. Texte, die sich um die ewigen Probleme des Nachtlebens drehen, ein Gebiet, in dem sich bekanntlich alles ständig ändert und doch alle immer wieder das Gleiche ist.

Mit der Ruhe und der liebevollen Gelassenheit desjenigen, der alles gesehen hat und sich mittlerweile in Ruhe dem Studium der Details widmen kann, geht es bei Laarmann etwa um das Thema „Kostenlos“. Die tatsächlich noch lange nicht eingehend genug untersuchte Frage, warum Leute im Laufe einer Nacht Hunderte von Mark für Drogen ausgeben, aber an der Tür einen riesigen Aufriss wegen fünfzehn läppischer Mark machen. Oder der Komplex „Schluss jetzt: Wann gehen?“ – eine Auflistung verschiedenster Gründe für und gegen den Weg nach Hause, der in der großartigen Erzählung vom Exgrafiker Markus H. gipfelte, der heute die Obdachlosenzeitung verkaufen muss, weil er es im Laufe ei- nes tragischen Wochenendes rund drei dutzend Mal verpasste, im richtigen Augenblick zu gehen.

Das war alles höchst erbaulich. Die versammelten Berlin Mitte Boys und Girls nippten im Reingold an ihren Cocktails, machten sich noch ein paar Gedanken, ob der Munification von Mitte nicht die Cottbussification oder gar die Frankfurt-Oderfication vorzuziehen wäre, ließen die Frage unentschieden und fanden schließlich den Weg nach Hause. RAP

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