piwik no script img

berliner szenenKirchner im Museum

Großstadterotik

Der expressionistische Künstler Ernst Ludwig Kirchner war ein nervöser und ängstlicher Mensch. Er litt unter Schlaflosigkeit und körperlicher Auszehrung, dazu betäubte er sich mit Rauschmitteln aller Art. Viele seiner traurigen Tage verlebte Kirchner in Sanatorien in der Schweiz. Vom Militärdienst war er befreit, Nervosität galt damals als ansteckende Krankheit.

Berlin erlebte Ernst Ludwig Kirchner stets als Stadt schmutzig-schöner Sünden. Wollte er den Potsdamer Platz zeigen, malte er eine Straßenszene mit Prostituierten. Die Frauen erinnern einen heute an spitze Gespenster. Andere sehen darin nicht weniger als den vorweggenommenen Untergang Preußens. Darum hat die Neue Nationalgalerie im letzten Jahr das Gemälde erworben. Die Ausstellung rund um das Prostituiertenbild wurde am vergangenen Freitag eröffnet.

So gab es denn am Abend eine ausführliche Rede des Kurators, in dem viel von „Großstadterotik“, „Sinnbild einer Vanitas“ und Krieg als „blutigem Karneval“ gesprochen wurde. Offensichtlich musste der Ausstellungsmacher hier die hohen Anschaffungskosten rechtfertigen. Das Bild habe 18 Millionen gekostet, flüsterte jemand im Publikum. Und das schien einem dann auch sehr viel Geld für ein einzelnes Gemälde zu sein, selbst wenn die Farben in so angenehmem Blau und Grün verschwimmen. Im versunkenen Wegträumen fiel einem dann gerade noch des Kurators Mut zur abwechslungsreichen Wortwahl auf. „Kokotten“, „Kurtisanen“ oder „Huren Babylons“ nannte er Kirchners Prostituierte. Auch der vergessene Ausdruck „Horizontalflittchen“ fand neue Anwendung. Allerdings zeigte später eine zur Ausstellung gehörende Multivision die Geschichte des Potsdamer Platzes auch jenseits aller sexuellen Anspielungen. Im Jahre 1938 schrieb Ernst Ludwig Kirchner: „Ich bin ausgebrannt, leer, besudelt und ohne Hoffnung.“ Kirchner beging Selbstmord in Davos.

KIRSTEN KÜPPERS

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen