berliner szenen: Der neue Trend: Trampen
Daumen raus
Noch vor ein paar Jahren standen sie zuhauf an den Berliner Ausfallstraßen und hielten den Daumen in den Wind, um umsonst nach Hamburg oder München zu kommen. Man nahm die meist jungen Leute gerne mit, bekam dafür mal mehr, mal minder interessante Unterhaltung gratis oder lernte dank Kassettentausch eine neue Musikgruppe kennen. Lange her. Heute trampt ja keiner mehr. So muss man immer ganz allein die A 24 gen Norden reiten. Nur mit Musik als Begleitung.
Warum kommt Fahren per Anhalter nicht wieder in Mode? Wo doch alles wiederkehrt? Die Musik der 70er, die Mode der 80er, das Kuddelmuddel der 90er. Das Darben hat vielleicht ein Ende: Vorgestern Abend, so gegen Mitternacht, klauten mein Freund und ich Holzpaletten vor einem Gemüseladen zwischen Frankfurter Tor und Bersarinplatz. Auf den Paletten liegt jetzt meine neue, ziemlich teure Latexmatratze. Ist billig und sieht klasse aus.
Guck mal, sagte plötzlich René zu mir, da stehen zwei Tramper kurz hinter der Ampel. Erst wollte ich ihm gar nicht glauben. Von wegen Anhalter mitten in der Stadt. In Friedrichshain! Aber es stimmte: Da hielt ein junges Pärchen gemeinsam die Daumen hoch und winkte um kostenlose Mitnahme gen Prenzlauer Berg. Sie hatte rot gefärbte Haare, zu Zöpfen zusammengebunden, er so eine stachlige Walter-aus-dem-Container-Gelfrisur. Beide trugen silbrige, superweite Hosen und meterhohe Plateauschuhe. So gehen heutzutage also junge Leute aus. Und sparen vier Mark für die Straßenbahn. Denn schon nach ein paar Minuten hielt ein Wagen mit Berliner Kennzeichen. Die beiden innerstädtischen Tramper schwatzten kurz mit dem Fahrer, wurden sich vermutlich schnell einig über Weg und Ziel und stiegen ins noch leere Auto. Und wir waren Zeugen der Geburt eines neuen, begrüßenswerten Trends: Trampen in der Stadt. Das ist fast wie früher – billig, vertreibt die Zeit, stellt Kontakte her, nur die Fahrten sind viel kürzer. Warum ist man selbst nicht schon längst darauf gekommen?
ANDREAS HERGETH
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