berliner szenen: Tramfahrer-Ehre
Mach flinke Hufe
Gestaltet sich das Wetter mies, steige ich notgedrungen auf die Öffentlichen um. Das hat Nachteile – trockene Luft, volle Bahnen und langweilige Fahrten, wenn man nichts zum Lesen dabei hat. Dafür lasen neulich alle anderen in der Tram. Die Frau gegenüber schmökert in „Montag ist erst übermorgen“ von Doris Jannausch, der junge Mann neben ihr hat sich die Internetzeitung auf bequem zu handhabende DIN A4-Blätter ausgedruckt. Ein älterer Herr unterstreicht ihm wichtige Stellen in einem englischen Text über „The profane Sex in ancient Egypt“. Doch dann werden alle Fahrgäste der voll besetzten Bahn aus ihrem Kokon gerissen. Denn an der Haltestelle „Krankenhaus im Friedrichshain“ erhebt plötzlich der Tramfahrer seine Stimme. „Wer von den Jugendlichen, die hinten einstiegen, gerade an meine Windschutzscheibe rotzte, sollte schleunigst wieder aussteigen, ansonsten geht die Fahrt nicht weiter!“
Wir stehen eine Minute lang.
„Mach mal flinke Hufe!“, ruft der Straßenbahnfahrer hörbar aggressiv. Wohl nicht alle Tage erlebt er einen solch gemeinen Angriff auf seine Tramfahrer-Ehre. „Alle Fahrgäste können sich bei dir bedanken“, setzt er auf Drohen mit Volkes Missstimmung. Doch nichts passiert. Also stiefelt der etwa 30-jährige BVG-Mann mit Zornesfalten nach hinten und fordert Aug’ in Aug’ den Feind zum Verlassen der Bahn auf. Das nützt wieder nichts. Der Fahrer kehrt zurück ans Steuer. Keiner murrt. „Mach doch wenigstens die Türen zu“, wagt eine Frau leise zu sagen. Doch die bleiben offen, bis sich die drei Rotzbengels doch endlich entschließen, lachend die Tram zu verlassen. Nach fünf Minuten geht es weiter. „Danke“, bedankt sich der Tramfahrer vorschriftsmäßig.
ANDREAS HERGETH
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