: berliner szenen Lange Abschiede
Kohlenkellerelegie
Ein Umzug ist ein scharfes Schwert. Er zwingt uns, die echten Dinge von den überflüssigen zu trennen, lässt uns die wahren Freunde von den falschen mit den vorgeblichen Bandscheibenschäden scheiden und heißt uns Abschied nehmen. Zum Beispiel vom Kohlenkeller, für Jahre Heimstatt meiner Briketts. Ein trauriger Anblick mitten im Sommer, doch der Vermieter will die komplette Räumung. Nun denn, hinweg mit den Hinterlassenschaften sämtlicher Vormieter. In der Ecke die letzten Bruchstücke: „Union“ und „Rekord“ ist noch zu lesen. Das waren wichtige Hinweise! Lausitz oder Niederrhein? Das waren Entscheidungen! Der Schweiß vermischt sich mit Tränen. All dies nie mehr: Nie mehr an einem Herbstmorgen pünktlich um sechs von einem schwarzen Mann aus dem Bett geklopft werden, um dann fröstelnd daneben zu stehen und zu sehen, wie er keuchend die Bündel in den Keller schafft. Im ersten Jahr habe ich für einige Bündel mehr noch selber mitgeschleppt – ein gutes Gefühl, bis der Schmerz einsetzt. Später beschränkte ich mich darauf, schlafverwirrt die Bündel zu zählen, und war doch jedesmal betrogen.
Allerdings, sinnierte ich abends auf dem Balkon der neuen Wohnung mit Gasetagenheizung, schön war es doch: Das sichere Gefühl, die Wärme für den Winter bereits bezahlt und bei sich zu haben, und all die Finessen der Feuerung und Glutbewahrung, mit denen man bei den Freunden weiter westlich enormen Eindruck schinden konnte. Vorbei. Doch gestern fand ich mal wieder einen Wurfzettel im Briefkasten: „Gas billig kubikmeterweise – russisches Erdgas zu günstigen Sommerpreisen, frei Gelass!“ Einmal wieder im Morgengrauen zählen: Ich werde bestellen. CARSTEN WÜRMANN
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