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Archiv-Artikel

berliner szenen Ausziehzwang am Kotti

Besoffene Körperpolitik

Die drei Männer, die reinkommen, sind kurz verwirrt, dann erschrocken, dann verlassen sie die kleine Bar am Kottbusser Tor wieder. Es ist nicht die erste Männergruppe, die flieht, es ist auch nicht die letzte. Drei betrunkene Frauen tanzen mit nacktem Oberkörper. Der, der als ihr Fahrer fungiert, seufzt. „Das machen sie immer“, behauptet er. „Das ist politisch.“

Die Frauen entkleiden jetzt auch andere Frauen, die das mit sich machen lassen, es sind jetzt sechs Halbnackte auf der Tanzfläche. Der DJ lächelt. Die Bar wird immer leerer. Ein Mann schält sich mutig aus Pullover und T-Shirt. Er stolpert zwischen den Frauen herum, ist dann aber doch nicht auf Baggertour. Die Frauen kümmert’s nicht. Wir sitzen an der Bar und lachen. Kleidungsstücke fliegen an uns vorbei und hinter die Bar, jetzt haben sich die Tänzerinnen den DJ auserkoren. Er ist nicht fürs Ausziehen angezogen und schämt sich, kann sich aber nicht richtig wehren. Halbnackt steht er hinterm Pult und legt weiter auf. Friert er? Er zittert jedenfalls. Zwischen zwei Stücken schleicht er an die Bar, um sich sein Hemd zurückzuholen.

Eine Frau, die erschöpft ist, beginnt sich zu schämen. Sie findet ihr Hemd nicht mehr, sie nimmt dann ein anderes. Ihr Freund, der selbst berauscht ist, redet auf sie ein. Sie schämt sich noch mehr. Die meisten haben die Bar verlassen, jedenfalls fast alle Männer.

Kaum hat sich der Ausziehzwang etwas beruhigt, nimmt er auch schon wieder zu. Nun fliehen auch wir. Draußen, in dicken Jacken, wagen wir einen Blick zurück. Durch die beschlagenen Scheiben sieht man nur noch Nackte, selbst der DJ scheint wieder entkleidet zur sein. Einsam hinter der Bar steht der Barmann, staunend.

JÖRG SUNDERMEIER