berliner synästhesie: Wenn jeder Schornstein ein Widerstand ist und die Stadt ein gern gebrauchter Kratzbaum
Tasten
In den frühen Neunzigern gab es dieses Plakat: Ein kämpferischer Hasskappenträger stand auf einem Dach, reckte die Faust, und neben ihm wehte eine Fahne, die wie der ganze Rest des Plakats in Rot und Schwarz gehalten war. „Begreift unsere Häuser als Teil Eurer Strukturen! Marchstr./Einsteinufer bleibt!“ stand darunter. Wir und ihr, Häuser und Strukturen, verstehen, sich nehmen können und gleichzeitig all diese hochkomplexen gesellschaftlichen Zusamenhänge und Ausbeutungsverhältnisse sowie den Widerstand dagegen anfassen können – das ist sinnliches Begreifen.
So funktionierte der Tastsinn der Autonomen. Das ist nun eine ganze Weile her. Für diese Art von Inbegriffnahme, für dieses Ertasten, brauchte es Scharten, Lücken und Freiräume. Die gibt es heute nicht mehr geschenkt, und erkämpfen kann man sie sich auch nicht mehr. Wer sich tatsächlich ernsthaft nehmen will, worauf er oder sie Anspruch zu haben glaubt, wird geräumt. Also muss man auf Alternativstrategien ausweichen, will man tatsächlich etwas ertasten, erfassen und begreifen. Ansonsten gleitet man ab.
Da gibt es etwa die Methode, bestimmte Räume für eine Weile zur sozialen Plastik zu erklären und das bürgerliche System und seinen erweiterten Kunstbegriff beim Wort zu nehmen – etwa indem man eine Party auf offener Straße zur Kunstaktion erklärt, den Verkehr zum Erliegen bringt und sich so für eine Weile am Stein, Beton und Asphalt entlangtastet.
Solche Aktionen sind natürlich eher flüchtig. Sie handeln davon, sich ein wenig vorzutasten, auszuprobieren, was geht, und sich dann wieder in die strategische Defensive zurückzuziehen – aber der Tastsinn ist ja auch der unmittelbarste und am wenigsten dauerhafte Sinn.
Je weiter der Rückbau der Stadt voranschreitet, desto schwieriger ist es allerdings, Berlin zu ertasten. Die sichtbaren Fassaden werden vor die eigentlich tragenden Wände gehängt, in unsäglicher Fortsetzung jener Putzverzierungen, die die Altbauten so aussehen lassen, als seien sie aus festen Quadern gebaut.
Da kann man so lange herüberstreicheln, wie man will, es wird sich kein sinnlicher Mehrwert erfühlen lassen. Das funktioniert nur noch vermittelt aus der Distanz, wenn man den Blick aus großer Höhe über die Dächer streichen lässt und jeder Schornstein ein kleiner Widerstand ist. Man kann die Stadt natürlich auch ganz konkret als Kratzbaum benutzen. So wie einer der notorischen Berliner Hinterhoftrinker, der seine Tage bei irgendeinem Kumpel in der Wohnung verbringt – in einer der Wohnungen, in denen meist nicht mehr steht als eine Sofagarnitur vom Sozialamt, ein Fernseher und ein Kühlschrank.
Und wenn dann der Betreuer, der das alles organisiert hat, hereinkommt, sind alle Anwesenden schon einigermaßen bedient vom Goldbrandtrinken und rufen ihm ausgelassen zu: „Ey, Sozialbesuch is da! Setz da ersma und rooch eene!“
Manchmal steht einer dieser Hinterhoftrinker an einer Ampel, in den zittrigen Händen mehrere Plastiktüten mit Goldbrand, Fanta und Dosenbier. Da juckt es ihn dann. Und da keine Hand frei ist, reibt er seinen Hals an der Ampel. TOBIAS RAPP
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