berliner synästhesie: Personenkreis C&A, Schauplatz Joachimstaler Straße
Der sechste Sinn
Drei Frauen mit dunklen Kopftüchern drehen am Ständer mit den herabgesetzten Blusen: hochkonzentrierter Blick, ab und zu wird ein Teil herausgenommen und prüfend vor den Körper gehalten. Einige Meter weiter probieren zwei ältere Frauen Popeline-Jacken und lassen dabei ihre Handtaschen seitlich umgehängt, so dass sich unter den neuen Jacken Beulen bilden. Eine Mutter zerrt ihre drei kleinen Kinder in den Fahrstuhl. Kinderbekleidung dritter Stock.
Personenkreis C&A, Schauplatz Joachimstaler Straße. Die Verkaufsetagen sind endlos und in tristes Neonlicht getaucht. Einkaufen als Menschenrecht, von Vergnügen keine Spur. Keine Spur auch von der Chuzpe, mit der woanders das Billige Teil eines gewissen radical chic geworden ist. Hier ist alles billig, denn das Leben ist schließlich teuer genug. Eine Atmosphäre wie in Inszenierungen von Thomas Ostermeier, einen guten Kilometer weit entfernt in der Schaubühne am Kurfürstendamm. Aber da ist eben schon zu Ästhetik geronnen, was hier noch das nackte Dasein ist.
Drumherum wächst das neue Berlin nun auch am Kudamm in den Berliner Himmel. Bloß, hier ist die Zeit stehen geblieben, irgendwann in den 80er-Jahren, als C&A noch zum Bermuda-Dreieck aus Bilka und Ullrichs am Zoo gehörte. Einkaufsparadies für den Teil des Ostblocks, der es bis zum Bahnhof Friedrichstraße und von dort aus zum S-Bahnhof Zoo geschafft hatte.
Durch Ullrichs am Zoo konnte man manchmal Stephan Heym seinen Einkaufswagen schieben sehen und afrikanische Diplomatenfrauen aus Pankow – in wunderbare bunte Stoffe gewickelt. Bei Bilka (heute Karstadt Sport), das sozusagen das Kaufhaus des Ostens war, wurde die Frau von Eduard von Schnitzler (der den berühmten „Schwarzen Kanal“ moderierte) irgendwann mal beim Klauen erwischt. Und hier, bei C&A, spazierte man dann an den Kollektionen mit den merkwürdigen Namen „Signé Incognito“, „Clockhouse“, oder „Your 6th Sense“ vorbei, wie unsereins beim Ausflug nach Paris durch die Rue Cambon. Mit diesen Namen karikierte sich der westliche Markenwahn selbst. Wirkte dabei aber irgendwie auch wunderbar basisdemokratisch. Wenn wir uns echte Marken nicht leisten können, dann kaufen wir halt erfundene.
Inzwischen ist längst alles anders. Nur nicht bei C&A. Das Licht hier drinnen ist noch so kalt wie schon vor fünfzehn Jahren. Bloß dass es vielleicht damals draußen wärmer war für viele, die immer noch hier kaufen. Nebenan, wo bis letztes Jahr das scheußliche Kudammeck stand, windet sich schon in rasanten Kurven die rohe Betonfassade eines Neubaus vom Kurfürstendamm in die Joachimstaler Straße herein.
Hierhin wird dann auch C&A umziehen und einen Versuch unternehmen, endlich anzukommen in der neuen Zeit. Die Bilanzen sind ja ruinös, wie man hört. Nicht bloß an der Joachimstaler Straße. Was vielleicht daran liegt, dass der Unternehmensspitze eben jener 6. Sinn abhanden kam, unter dem die berühmteste Damenlinie des Hauses noch immer firmiert: „Your 6th sense, Classic Style by C&A“. Wobei „classic“ ein Euphemismus für „unscheinbar“ ist.
Doch der Umzug ist nur Oberflächenkosmetik, wenn sich sonst bei C&A nichts tut. Irgendwann, denkt man, wird der Personenkreis C&A nämlich ausgestorben sein. Oder sich bloß noch bei Humana oder dem Roten Kreuz mit Garderobe eindecken. Immer mehr werden nämlich aussehen, als wären sie gerade zu einem Big-Brother-Casting unterwegs. Schick, modisch, heutig und ohne verschämte Spuren des Versagens, die einen von vielen C&A-Klamotten so dramatisch anspringen, dass man nur noch fluchtartig das Kaufhaus verlassen will, um nicht in den Fängen eines ungewissen Unglücks zu landen, vor dem einen auch kein sechster Sinn mehr bewahrt. ESTHER SLEVOGT
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