berlin buch boombewährt und immer wieder neu: jerry cotton (1971): Erst Manhattan, dann Berlin
Was lesen in diesen Zeiten? „Nehmen Sie was Bewährtes“, empfahl meine Romanhändlerin in der Markthalle und drückte mir ein Taschenbuch in die Hand. „Was Kriminelles und mit Amerikanern ist heutzutage Pflicht. Und außerdem kommt Berlin drin vor. Kann Ihnen als Zugereisten nicht schaden.“
Mal sehen: Das Brandenburger Tor, davor mittig ein Schild: „Achtung! Sie verlassen jetzt West-Berlin.“ Links ein Mann mit offener Daunenweste, darunter ein kariertes Flanellhemd, aufgekrempelt, weißes T-Shirt, dunkler Teint, vielleicht kommt er aus Neukölln. Er starrt sein Gegenüber an, an dem Revolver vorbei, der direkt in der Mitte seiner Stirn ruht. Der Gegenüber starrt zurück, hält die Waffe am ausgestreckten Arm und trägt ein kariertes Hemd, locker fallend und offen über T-Shirt und Bauchansatz. Ein Amerikaner? Vielversprechend. Das alles in Schwarzweiß, rot unterlegt – jedoch: „Die auf dem Titelbild dargestellten Schauspieler stehen in keiner Beziehung zu dem Romantitel und dem Inhalt dieses Romans.“ Schade! Unter dem Foto in weißer Schrift auf schwarzem Grund: „Von Manhattan nach Berlin.“ Darüber in Großbuchstaben: JERRY COTTON. Was machte der bekannteste G-Man des FBI vor 30 Jahren mitten in Berlin? Der Klappentext verspricht: Er ließ die Hölle los.
Am Anfang trifft Cotton im New Yorker Riverside Park an einem „unschönen Sommerabend“ einen Mann, der einen Mord gesteht. Im selben Augenblick wird er von einem Wolkenkratzer aus erschossen. Cotton ist verwirrt, er weiß: Dieser Mann war unschuldig, Cotton selbst sah ihn zur Tatzeit stockbetrunken in einem Nachtlokal. Weitere Morde geschehen und im Hintergrund steht stets Umberto Gelati alias Humpert Icecream, den Cotton fragt und der nichts weiß.
Anscheinend geht es um Nat Blei, dem Besitzer der Rancher Bar in Manhattan. Gelati jagt ihn, und das FBI bringt ihn aus der Schusslinie nach Deutschland. Cotton fliegt mit. Kaum in Frankfurt, entzieht sich Blei dem staatlichen Schutz und macht sich auf nach Berlin. Ihm nach, kurz vor dem Übergang nach Ostberlin, kommt Cotton die Erleuchtung: Gelati und Blei sind Komplizen, und all die Morde dienten allein dem Ziel, mit Schutz des FBI wichtige Papiere hinter den Eisernen Vorhang zu schaffen. Die Mündung der Maschinenpistolen der Grenzer vor Augen stoppt Cotton die S-Bahn auf ihrem Weg zur Friedrichstraße auf der Sektorengrenze und zieht Blei und die Papiere aus dem Zug. Es waren die Pläne für den Bau einer Sauerstoffbombe – „Sie wissen ja, Sauerstoffkettenreaktion“ – Gelati ließ sie stehlen und wollte sie den Russen liefern.
In Cottons Gewahrsam packt Blei aus und entschließt sich, Gelati ans Messer zu liefern. Cotton bringt ihn in die USA zurück, verhindert alle Versuche, Blei endgültig an der Aussage zu hindern und kann im vorletzten Satz Gelati verhaften, keiner seiner sechs Anwälte wird ihm mehr helfen. Ansonsten alles wie immer: Jede Frau ein Girl, kein Sex, keine unnötige Gewalt, saubere Schüsse und schnelles Sterben.
Durchkalkulierter Lesestoff: 8,5 bis 8,8 Wörter pro Satz, zu 70 bis 80 Prozent Hauptsätze und Satzreihen, in 50 Prozent der Fälle mit einem Subjekt in der Spitzenstellung, jedes fünfte Subjekt ein Ich-Reduktion aufs Wesentliche. Eine klare, lineare Handlungsführung, dem einen Ziel verpflichtet: Den Täter zur Strecke bringen. Darüber hinaus wird konsequent jede innere Motivation des Geschehens vermieden. Ergebnisorientiert eben, und damit trotz des Alters ideale Lektüre für die neue Mitte. Und das Cotten’sche Berlin? Tegel, S-Bahn, Stau, rote Ampeln überfahrende Taxen, mit der Faust drohende Busfahrer. Bewährtes eben. CARSTEN WÜHRMANN
Jerry Cotton: „Von Manhattan nach Berlin“. Kriminalroman. Bastei Lübbe 1971. 2. Aufl. 1991
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