ausgehen und rumstehen: Sonnenblumen am DJ-Pult
In dem Marktsegment Ausgehen ab 30 gibt es in Berlin ja einige Angebote. „Die schöne Party“ zum Beispiel: Die erfolgreiche Partyreihe des Erwachsenen-Senders Radio Eins findet schon seit 2000 in der Kalkscheune statt. Das ist eine Party für Leute, die sich, laut Veranstalter, „dem Schönheits- und Coolnessterror anderer Clubs nicht unterwerfen wollen“. Am Samstag war die Kalkscheune wieder mal restlos ausverkauft, in langen Schlangen wartete man geduldig auf Einlass. Schließlich legte Jürgen Trittin als DJ Dosenpfand auf.
Man hat sich vorher Gedanken gemacht, was ein grüner Exminister so mitbringt: Wahrscheinlich „Aufstehen“, den Antiatomkraft-Song von Bots, oder Joseph Beuys „Wir wollen Sonne statt Reagen“. Ganz gewiss wird beim „grünen Auflegen“ ein auch Kategorien wie Race und Gender mitdenkender vorbildlich zusammengestellter multiethnischer Mix geboten: etwa Manu Chaos Globalisierungsgegnermusik aus Spanien, algerischer Hiphop aus Marseille, Grime aus Birmingham, Balkanbeats und ein bisschen Worldmusic?
Alles kam anders.
Ein Dia mit dem alten „Atomkraft? Nein danke!“-Logo schmückte den Raum. Das DJ-Pult – doppelreihig umkränzt mit gelben Sonnenblumen – gab keinen Blick auf die tatsächliche manuelle Arbeit frei. Jürgen Trittin stand gut gelaunt in schwarzem Pullover und grauer Anzugsjacke hinter den Blumen, wippte betont locker im Takt und versuchte unbeholfen, aber süß, die typischen Körperbewegungen eines DJs oder das, was er dafür hielt, zu imitieren. Manchmal starrte er kurz angestrengt auf die unsichtbare Fläche unter den Sonnenblumen und zog als typische Handbewegung einen imaginären Regler hoch. Ein Datenträger, auf dem sich Musik befinden konnte, ward nicht gesehen an diesem Abend, ganz zu Beginn hielt DJ Dosenpfand mal einen Kopfhörer in der Hand.
Die Partygäste waren nun auch nicht weniger schön oder uncooler als anderswo, lediglich die Altersspannne war etwas weiter gefasst. Menschen zwischen 28 und 40, die auch gerne zur Single-Partyreihe „Fisch sucht Fahrrad“ an denselben Ort gehen. Man kannte sich, stand cliquenweise beisammen, und die Anwesenheit DJ Trittins sorgte für keine besondere Aufregung.
Nun zum Musikprogramm – ach je! Von „Sweet Home Alabama“ zu Led Zeppelin, von Jimmy Hendrix zu Iggy Pop, ein bisschen Ideal und Fehlfarben, und natürlich keine B-Seiten, keine Raritäten, sondern immer die allerbekanntesten Hits. Gänzlich unabenteuerlich, stumpf nordamerika -und eurozentristisch ging es zu. Annette Humpe von Ideal war wohl die einzig weibliche Stimme, Hendrix und Michael Jackson waren die einzig nichtweißen Musiker des Abends.
So ließ es sich bei diesen zehntausendmal gehörten Hits der 70er- und 80er-Jahre prima den eigenen Gedanken nachhängen: der einst unbeliebteste Politiker Deutschlands – was macht er eigentlich sonst so außer auflegen? Ist er noch Fraktionsvorsitzender oder nur noch einfaches MdB? Auf eine Zukunft als DJ aber sollte er jedenfalls nicht unbedingt setzen.
Bei einem alten Ton-Steine-Scherben-Heuler gab es dann für DJ Jürgen kein Halten mehr. Die zwei geschundenen Seelen in der Brust des ehemaligen Umweltministers machten sich Luft. Die ganzen Erniedrigungen der Regierungszeit – das Gewaltmonopols des Staates als Preis für die Teilhabe an der Macht anerkennen zu müssen, die Reisen, der ganze Stress – das alles brach da auf in DJ Dosenpfand, und mit einer zornig geballten Faust und dem wütend mitskandierten Refrain „Keine Macht für niemand!!!“ zeigte der Politiker seine wahre, nur zeitweise verschüttete, anarchistische Seite.
So bewies der denkwürdige Abend in der Kalkscheune wieder einmal, was Musik doch alles bewirken kann.
CHRISTIANE RÖSINGER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen