aufgehoben: Wenn ach so Überflüssiges plötzlich dringend gesucht wird
Sie sind der Stoff für Fernsehserien, gedruckte Magazine oder zunehmend auch Podcasts: cold cases, also länger zurückliegende, weiter der Aufklärung harrende Kriminalfälle. Späte Aufklärung kann oft deshalb gelingen, weil der Polizei heute andere, bessere Möglichkeiten zur Verfügung stehen: auch nicht optimal erhaltene DNA-Spuren zu ermitteln und abzugleichen, etwa. Und überhaupt die Segnungen der Digitalisierung.
Ganz schön weit weg von der Hochleistungstechnik, mit der die Cops in „CSI Sonstwo“-Serien oder prominent besetzten True-crime-Hörformaten hantieren, scheinen die Dinge in Lüneburg zu liegen: Dort hofft die Polizeidirektion, Sachgebiet „cold case“, im Fall der „Göhrde-Morde“ späte Gerechtigkeit zu erreichen – oder doch wenigstens einen Ermittlungserfolg. Im Juli 1989 waren dort, zwischen Lüneburg und Dannenberg, kurz nacheinander zwei ermordete Ehepaare gefunden worden. Die Aufregung war immens, die Bevölkerung in Unruhe, eine Sonderkommission wurde mit allem Personal beschickt, das verfügbar war – es gab auch einen Verdächtigen, der sich 1993 in U-Haft das Leben nahm. Aber war er allein?
Dieser Tage nun geht die Polizei einer offenbar neuen Spur nach – und braucht dafür ein Hamburger Telefonbuch von damals, also 1989. „Ja, ist so was denn nicht irgendwo archiviert?“, mögen Sie sich fragen – doch, ist es: So hat die Polizei das entsprechende Verzeichnis in gleich zwei Archiven ausfindig gemacht. Bloß: Für eine „fehlerfreie Recherche“ müsse es halt digitalisiert werden, und da sei eine „Beschädigung“ unvermeidlich.
Statt uns nun einzuschießen auf die offenbar eher grobschlächtigen Methoden, wenden wie uns der vorläufigen Lösung zu; nicht gleich des Göhrde-Falls insgesamt, aber wenigstens der Suche nach dem verlorenen Verzeichnis: Auf einen entsprechenden Aufruf früher in dieser Woche hin haben sich laut NDR zahlreiche Menschen in Lüneburg gemeldet – viele ganz old school per Telefon.
Ein Hoch! also auf all jene, die sich nicht vom Minimalismus-Trend haben einwickeln lassen: Wenn der oder die Göhrde-Schuldige doch noch ermittelt werden sollte und vielleicht sogar bestraft, dann dank Menschen, die aufbewahrten, was alle um sie herum für überkommen, überflüssig, Ballast hielten.
Alexander Diehl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen