auf augenhöhe: Die Zirkusdiener sammeln die Rosen aus dem Sand, und auch ein paar Pferdeäpfel
Trauer in der Manege des „Großen Asiatischen Circus“
An diesem Montagmorgen ist der „Zentrale Festplatz“ im Schatten des Tegeler Flughafens ein trostloser Ort. Der Berufsverkehr rauscht den Kurt-Schumacher-Damm herauf, zwei Arbeiter pflastern fröstelnd den Bürgersteig. Verloren steht das Zelt des „Großen Asiatischen Circus“ auf dem leeren Parkplatz, die rote Plane ist fleckig im trüben Novemberlicht.
Gestern nahmen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zirkus Abschied von ihrem Kollegen Yuri Ermolaev. Kunstreiter war er, seit sechs Jahren gab er allabendlich in dem roten Zelt den bösen Fürsten – eine der Hauptrollen in dem Pferde-Musical „Legende der Liebe“. Der Fürst ist Herr über eine Gruppe von Djigitten, die sich höchst artistisch auf den Rücken galoppierender Rösser mit Säbeln bekämpfen. Natürlich geht es dabei um eine entführte Prinzessin, auch Amazonen spielen eine wichtige Rolle.
Am Sonntagmorgen vor einer Woche fanden seine Kollegen Ermolaev tot im Pferdezelt liegen. An Herzversagen ist er gestorben, mit 29 Jahren. Am 17. Dezember wäre er dreißig geworden.
An diesem Montagmorgen nun, acht Tage nach seinem Tod, ist der Sarg des Verstorbenen zum Abschied in der Manege aufgebahrt – nach alter Zirkustradition. Die Artistenkollegen haben einen Kreis gebildet, sie alle tragen schwarze Anzüge und stehen vor der kleinen Barriere, die die Manege vom Zuschauerraum trennt, die leeren Ränge im Rücken. Sie stehen dort, fassen sich an der Hand und blicken auf den Sarg in ihrer Mitte.
Dunkel ist es im Zelt, nur ein Scheinwerfer bestrahlt russische Flagge und weiße Rosen, mit denen der Sarg bedeckt ist. Auf vier Stühlen in der Manege sitzen die Mitglieder von Ermolaevs Familie, die auch beim Zirkus sind: Auf einen Stock gestützt, den weißhaarigen Kopf erhoben, sein Onkel, daneben die Cousine. Schwarz verschleiert sind seine Mutter Svetlana und Olga, seine junge Frau. Auch sie ist Artistin: Sie spielt im Pferdemusical eine Amazone.
Ein modernes Unternehmen wie der „Große Asiatische Cirkus“ hat keinen Direktor mehr mit Frack und Zylinder, er hat einen Produzenten. Henk van der Meyden heißt er, ist Niederländer, trägt einen schlichten Anzug und spricht an diesem Montagmorgen die Abschiedsworte von Yuri Ermolaev in ein knackendes Mikrofon. Er redet von den vielen Nationalitäten im Zirkus, die doch zu einer großen Familie gehören, von der gemeinsamen Trauer in der Manege, von der großen Show, die weitergehen muss, so wie schon am Tag von Yuri Ermolaevs Tod. Eine Pause hat der Zirkus nicht gemacht. Auch Yuris Frau Olga trat auf am Tag seines Todes.
Wie bei seinen Vorstellungen, so sind auch bei der Abschiedszeremonie für Yuri Ermolaev die Pferde der Höhepunkt, mit denen er gearbeitet hat, und bei denen er gestorben ist. Seine Artistenkollegen führen sechs Rappen in die Manege, sie laufen im Kreis um Sarg und Familie herum, bilden einen inneren Ring, umgeben von den Zirkusleuten, die sich noch immer an der Hand halten. Dann ist die kurze Zeremonie vorbei.
Die Zirkusdiener in ihren roten Fantasieuniformen sammeln die Rosen aus dem Manegensand, und auch ein paar Pferdeäpfel. Sechs Artisten heben den Sarg an und tragen ihn durch den Vorhang hinaus aus der Manege und dem Zelt in den trüben Berliner Montagmorgen.
In der russisch-orthodoxen Kirche in der Wittestraße nimmt seine Familie noch einmal im kleinen Kreis Abschied von dem Zirkusartisten Yuri Ermolaev. Beerdigt wird er in seiner Heimatstadt Moskau.
THOMAS GOEBEL
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