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Archiv-Artikel

american pie Das Wunder von Lake Placid

Auch in den USA schwelgt man in sportlich-cineastischen Erinnerungen, weil die Gegenwart wenig Heldisches zu bieten hat

Noch bevor ein einziger Schlittschuh seine Spur auf das Eis gekratzt hat, weiß man, worum es geht. Auf zwei Minuten verdichtet werden dem Zuschauer die amerikanischen 70er-Jahre in Erinnerung gerufen. Es sind keine guten Erinnerungen: Die Watergate-Affäre, die Evakuierung der amerikanischen Botschaft in Saigon, die Besetzung der Amerikanischen Botschaft in Teheran, dazwischen die Niederlage im Basketball gegen die UdSSR bei den Spielen von München – das amerikanische Selbstbewusstsein war 1979 an einem Tiefpunkt angelangt. Da konnte nur noch ein Wunder helfen, und von diesem erzählt der Film, der folgt: Vom „Miracle on Ice“, dem unglaublichen Goldmedaillengewinn der amerikanischen College-Milchbärte bei den Olympischen Spielen 1980 in Lake Placid mit dem Sieg gegen die furchteinflößendste Mannschaft der Eishockey-Geschichte – die „Sbornaja“ der UdSSR unter Viktor Tichonow.

Erzählt wird der Film aus der Perspektive des Wundertrainers Herb Brooks, der mit Besessenheit und bisweilen brutaler Härte seinen Jungs eine neue Art, Eishockey zu spielen, beibrachte. Sehr authentisch werde Brooks von Ex-Klapperschlange Kurt Russell dargestellt, lobt E. M. Swift, der als Reporter in Lake Placid dabei war. Und so wird auch nicht Brooks’ hartnäckiges Beharren ausgespart, dass es sich nur um ein simples Eishockeyspiel gehandelt habe. Noch im Abspann warnt Brooks per Voice-over davor, den Sieg mit politischer Bedeutung aufzuladen.

Doch so sehr der Film sich als Tribut an Herb Brooks versteht, so sehr konterkariert er den eigensinnigen Trainer aus Minnesota. Denn der Film stellt das Spiel in genau den Zusammenhang, vor dem Brooks es bewahren wollte. Aber vielleicht ist der Film einfach nur realistisch: Denn das Match aus der Politik heraushalten zu wollen war von Anfang an vergebens und naiv. Das Spiel war Balsam auf die geschundene amerikanische Seele, die nach Watergate und Vietnam nicht mehr Gut von Schlecht, Richtig von Falsch unterscheiden konnte. Das Land war von Selbstzweifeln und Pessimismus geplagt. „Zum ersten Mal in der Geschichte“, klagt Präsident Jimmy Carter in einer Radioansprache, die Brooks nur Wochen vor den Spielen von Lake Placid im Auto hört, „glauben die Amerikaner, dass die nächsten fünf Jahre schlechter werden als die vorangegangenen fünf“.

Zu Beginn des Jahres 1980 hatte der Westen nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan bereits seinen Boykott für die Sommerspiele in Moskau ausgesprochen – vier Jahre später verkamen die Spiele in Los Angeles wegen des Ostboykotts zu US-Open. Im Eishockeyduell von Lake Placid trafen zum vielleicht letzten Mal zwei Mannschaften als idealtypische Vertreter ihrer Staaten und deren Ideologien aufeinander. Die Amerikaner gewannen und machten dadurch das ganze Land wieder ein ganzes Stück selbstzufriedener: „Brooks holte aus den Spielern Qualitäten heraus, von denen sie selbst nicht wussten, dass sie diese besaßen“, sagt der damalige Sportreporter Swift. „Und die Mannschaft tat das Gleiche für uns Amerikaner. Darin bestand das Wunder von Lake Placid: dass eine Eishockeymannschaft das vermochte.“ Das Spiel teilte die Sportwelt übersichtlich in die Guten und die Bösen ein. Dabei gewannen die Guten, und man konnte sich dabei wohl fühlen, zu ihnen zu gehören.

Nun ist der Ostblock schon lange zusammengebrochen und mit ihm das Feindbild im Sport. Man weiß in den USA nicht mehr so recht, worum es bei Olympia noch geht, außer allen zu zeigen, dass Amerika nach dem Kalten Krieg die Weltmacht Nummer eins ist. Doch wie in der Politik gerät im Sport das Großmachtgehabe zusehends zur Peinlichkeit. Die USA entdecken derzeit nicht nur die Korruptheit ihrer Sportpolitiker, sondern auch dass Doping kein Privileg der bösen anderen war. Weder an den Homerun-Rekord von Barry Bonds kann man noch glauben, noch an das Olympiagold von Marion Jones. Der amerikanische Sport steckt vor Athen in einer Identitätskrise. Da erinnert man sich gerne an diese Mannschaft, die so rein und unschuldig war und kraft ihrer Tugendhaftigkeit so stark – solch ein Wunder täte jetzt wieder Not. Einstweilen findet es jedoch nur auf der Leinwand statt – als Nostalgie. Herb Brooks, der im vergangenen August bei einem Autounfall starb, muss 24 Jahre nach Lake Placid noch einmal für ein angeknackstes nationales Selbstwertgefühl herhalten. SEBASTIAN MOLL