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Archiv-Artikel

american pie Ein-Mann-Basketball

Kobe Bryant gelingen 81 Punkte in einem Spiel. Da freut sich auch der Trainer, der eigentlich etwas gegen Selbstdarsteller auf dem Parkett hat

Ganz Los Angeles ist verzückt. „Can we love Kobe again?“, fragt sich die LA Times. Und die Konkurrenz LA Daily News fand den Auftritt immerhin „unvergesslich“. Der allseits beliebte Magic Johnson zückte sein Handy und gratulierte sofort. Ja selbst Phil Jackson, Chefcoach der Los Angeles Lakers und größter Kritiker seines Stars, schloss Kobe Bryant freudestrahlend in die Arme. Der Grund: 81 Punkte hatte der momentan wohl beste Basketballspieler des Planeten gesammelt – in einem einzigen Spiel. Das Opfer: die Toronto Raptors. Das Ergebnis: ein 122:104-Sieg.

Es war die zweithöchste Punktausbeute in der Geschichte der NBA, nur dem legendären Wilt Chamberlain gelangen für die Philadelphia Warriors einmal exakt 100 Punkte, das war im März 1962. Die Freude von Jackson erstaunte dann aber doch: Der ist sonst ganz und gar nicht begeistert, wenn einer seiner Profis jeden verfügbaren Wurf für sich reklamiert. Immer dann, wenn der 27-jährige Bryant seine Mitspieler ignoriert, sieht man den bärtigen Trainer-Guru grimmig die Seitenlinie abschreiten. Schließlich wurde Jackson vor allem deshalb neunmal NBA-Meister als Trainer, weil er wie kein anderer in der Lage ist, egozentrische Spitzenkönner von den Vorteilen einer mannschaftsdienlichen Spielweise zu überzeugen: Zum Dank bescherten ihm Michael Jordan in Chicago sechs Titel und Shaquille O’Neal im Verbund mit Bryant drei weitere in Los Angeles.

Die aktuelle Version der Lakers ist allerdings so bescheiden besetzt, dass Jackson gar keine andere Wahl bleibt, als seinem Shooting Guard alle Freiheiten zu gestatten. Dass Bryant in der Lage sein würde, eine solche Punkteausbeute zu erzielen, hatte sich angekündigt. Vier Tage vor Heiligabend schenkte Bryant Dirk Nowitzki und den restlichen staunenden Dallas Mavericks in gerade mal drei Vierteln 62 Punkte ein und nahm, als das Spiel entschieden war, auf der Bank Platz. Bislang zahlt sich die Ein-Mann-Strategie der Lakers aus: Zwar sind in ihrer Spielstätte, dem Staples Center, lange nicht so viele Prominente anzutreffen wie früher, aber immerhin sind sie auf dem besten Wege, sich für die Playoffs zu qualifizieren – was ihnen vor Saisonbeginn niemand zugetraut hätte.

Dass Bryant ein leidlich talentierter Basketballspieler ist, das war allerdings schon vor dieser Spielzeit bekannt. Auch dass er an dem von Medien immer wieder gern verpassten Label „Der nächste Michael Jordan“ zu scheitern drohte, war längst keine Meldung mehr wert. Den besten Basketballer aller Zeiten hat er nun immerhin schon in einem überflügelt: Selbst Jordan hat niemals 81 Punkte in einem einzigen Spiel erzielt.

„Davon hätte ich nicht zu träumen gewagt, nicht einmal als Kind“, erklärte Bryant nach seiner exorbitanten Leistung, die ihm von den Raptors, dem Team mit der – statistisch gesehen – drittschlechtesten Verteidigung der Liga, auch nicht allzu schwer gemacht wurde, „ich kann es nicht erklären, es ist einfach passiert“. Trotz der demonstrativen Bescheidenheit: Seit der Anklage wegen Vergewaltigung vor zwei Jahren ist Bryants Bild in der Öffentlichkeit stark verbesserungsfähig, auch wenn er den Prozess ohne Verurteilung überstand.

In Los Angeles allerdings hat man ein kurzes Gedächtnis. Dort hatte man Bryant eher vorgehalten, dass er O’Neal so lange vergraulte, bis der zu den Miami Heat flüchtete. So feierte das Publikum im Staples Center auch die Renaissance einer enttäuschten Liebe. Im Rest der USA mögen diese 81 Punkte kaum zur Image-Aufbesserung beitragen, sondern sogar das Bild von Bryant als selbstsüchtigem Superstar verfestigen. Aber in der Unterhaltungsmetropole hatte Egomanie schon immer einen ganz eigenen Stellenwert, und so war eine Frage unvermeidlich: Kann Bryant womöglich auch noch Chamberlains Rekord knacken und mehr als 100 Punkte erzielen? „Das ist undenkbar“, sagte der, der es am besten wissen sollte. Aber Kobe Bryant wäre nicht Kobe Bryant und L.A. nicht L.A., würde er diese Einschätzung nicht sofort wieder einschränken: „Ich weiß es nicht.“ Was man getrost übersetzen kann mit: „Aber klar doch.“

THOMAS WINKLER