KOMMENTAR: Zynismus
■ Erdbeben, Abstürze und andere Katastrophen
Naturkatastrophen rufen Betroffenheit hervor. Erreichen sie ein Ausmaß wie jetzt das Erdbeben in Armenien, setzen sie zurecht überall solidarische Hilfsmaßnahmen in Gang. Und dennoch ist die Darstellung solcher Katastrophen in den Medien und der politische Umgang mit ihnen immer auch zynisch. Dieser Zynismus wird durch die Regeln der öffentlichen Politik systematisch verdrängt. Daher erscheint es schon zynisch, wenn auf den Zynismus verwiesen wird.
Um alle Hilfsmaßnahmen und Äußerungen von Betroffenheit rankt sich ein ganzes Netz mitlaufender Selbstdarstellungen und Strategien. Mindestens so wichtig wie die Betroffenheit und Hilfe der öffentlich Agierenden ist, daß sie auch gebührend wahrgenommen werden. Auch jene, die ansonsten Atomkriege planen, Atomkraftwerke in Erdbebenregionen bauen und massive Umweltzerstörungen organisieren oder decken, die also millionenfachen Tod planen, kalkulieren oder zum „Restrisiko“ herunterspielen, demonstrieren plötzlich Humanität. Die Katastrophen ermöglichen noch dem letzten Zombie, glaubhaft ein menschliches Gesicht aufzusetzen.
Große Katastrophen haben in diesem Sinne aber nicht nur eine versöhnende Wirkung, sie entlasten auch von poltischem Handlungsdruck. Die größeren entwerten dabei die kleineren: Armenien verdrängt Remscheid, Remscheid verdrängt die Hochschulen, die Hochschulen verdrängen den Verfassungsschutz; das kaukasische Erdbeben überlagert die kaukasischen Nationalitätenkonflikte. Dieser Zynismus ist wahrscheinlich unaufhebbar, aber man muß mit ihm rechnen. Er ist Teil des politischen Geschäfts.
Erhard Stölting
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