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Zwischenspiel mit PferdeschwanzPicassos Krisenzyklus

Die Bremer Kunsthalle zeigt erstmals Pablo Picassos an der Côte dAzur entstandene Sylvette-Serie. Mit dabei: das Modell selbst, mittlerweile 79 Jahre alt.

Früher Modell, heute selbst Künstlerin: Sylvette David. Bild: dpa

BREMEN taz | Plötzlich ist die Kunsthalle voller Sylvettes. Sie wuseln herum, sind so blond wie ihre Mutter beziehungsweise Großmutter – und sehen den Picasso-Werken an den Wänden bemerkenswert ähnlich. Sylvette David hat ihre Großfamilie mitgebracht.

„I’ve been waiting all my life for this show“, sagt sie. Die „Show“ ist die aktuelle Sonderausstellung der Bremer Kunsthalle. Sie kreist um die 60 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen, für die David bei Pablo Picasso in Vallauris an der Côte d’Azur Modell saß.

Das war 1954. Sylvette David war damals 19, nur wenig älter als ihre Enkelinnen heute, Picasso hingegen 73 Jahre alt. Noch nie wurde die Sylvette-Serie bislang gezeigt, im Gegenteil: Die Einzelteile sind weltweit verstreut, überwiegend in Privatbesitz. In mühevoller Detektivarbeit hat Kunsthallen-Direktor Christoph Grunenberg sie aufgespürt und zusammengeliehen.

Sylvette David, die „ihre“ Werke nun nach 60 Jahren zum ersten Mal wieder sieht, ist heute Picassos unbekanntestes Modell. In den 50ern war das anders: Da berichteten europaweit die Magazine über die neue Inspirationsquelle des längst legendären Künstlers.

Der Spiegel schrieb: „Nachdem Picasso seine ,blaue‘, seine ,rosa‘, seine Neger- und seine Kubistenphase hatte“, schlüge er mit Sylvette nun ein ganz neues Kapitel auf.

Frühsommerlicher Schaffensrausch

Das war allerdings Unfug. Denn, wie in Bremen nun eindrücklich zu sehen ist, besteht der Reiz der Sylvette-Serie gerade darin, dass sie das immer gleiche Sujet in aller Vielfalt variiert. Sylvettes Kopf mit dem charakteristischen Pferdeschwanz, der lange Hals, die auffallend aufrechte Haltung – das alles spielt der Altmeister in sämtlichen ihm zur Verfügung stehenden Techniken und Materialien durch.

Es war ein frühsommerlicher Schaffensrausch, der drei Monate währte und mit dem sich Picasso von der Trennung von Françoise Gilot ablenkte. Die hatte ihn kurz zuvor mitsamt den gemeinsamen Kindern verlassen. Sylvette: ein Krisenzyklus?

Picasso muss ein Meister der Verdrängung gewesen sein. Seine Sylvettes wirken so heiter, dass die ganze Serie von vielen Picasso-Biografen als eher oberflächlich abgetan wird – quasi als Zwischenspiel mit Pferdeschwanz.

David, die kurz zuvor noch in Summerhill zur Schule gegangen war, entsprach perfekt dem neuen Schönheitsideal. Ihre Ähnlichkeit mit Brigitte Bardot ist kein Zufall – wobei Bardot wesentlich selbstbewusster vor der Kamera posierte. Sylvette hingegen versteckte sich, als der Medienansturm über Vallauris hereinbrach, im elterlichen Kleiderschrank.

Auch heute wirkt sie mit ihren geflochtenen Ponylocken eher hippiesk als eitel, wenn sie ihrer Familie die Bilder zeigt. Etwa die in ihrem Fotorealismus fast kitschig wirkende Zeichnung, die sie sich von Picasso als Modell-Lohn schenken ließ. „Heute würde ich eher etwas Kubistisches nehmen“, sagt sie – zu Recht. „Aber als junger Mensch hat man noch keinen Geschmack.“

Keine Aktsitzungen

David gilt als einziges Modell, mit dem Picasso kein Verhältnis hatte – ihr Freund brachte sie jeden Tag höchstselbst ins Atelier. Sie akzeptierte keine Aktsitzungen, was Picasso freilich nicht davon abhielt, sie – seiner Fantasie folgend – auch nackt darzustellen. Doch immerhin war der Meister in der Lage, das Verhältnis zwischen Maler und Modell künstlerisch zu reflektieren.

Das tat er mehrfach, auch unmittelbar vor der Begegnung mit David. Die Kunsthalle zeigt Teile der in ihrer Ehrlichkeit anrührenden „Verve-Serie“, in der sich Picasso als alternden Satyr darstellt, dem das Objekt der Begierde nur noch als Malmotiv zur Verfügung steht. Die Leinwand: eine unüberwindbare Grenze.

Sylvette David ist heute 79, sechs Jahre älter als damals Picasso. In ihrer zweiten Lebenshälfte entwickelte sie sich zu einer beachtlichen Künstlerin. Wie wäre es, wenn das Modell mal den Meister malte?

Doch zu einer solchen Umkehrung des Dominanz-Verhältnisses hat sich die Kunsthalle nicht durchringen können. Auch die Bemühungen ihres Londoner Galeristen, ihre Werke in einem anderen Bremer Haus parallel zu Picasso unterzubringen, blieben erfolglos.

Dabei wäre sogar eine Ausstellung mit dem Arbeitstitel „Die Malerei der Musen“ denkbar: Françoise Gilot ist eine begnadete Malerin, auch Jacqueline Roque, Sylvettes Nachfolgerin, arbeitete skulptural – ganz zu schweigen von der künstlerischen Potenz einer Dora Maar, die wiederum Gilots Vorgängerin war. Doch immerhin sind Gilot- und Roque-Porträts als chronologische Sylvette-Einordnung in der Kunsthalle präsent.

Das stärkste der in Bremen ausgestellten Werke ist ein liegender Körper, der so gar nichts mit der vermeintlichen Heiterkeit der Sylvette-Phase zu tun hat. Picasso hat ihn aus Fundstücke aus den Töpfer-Brennöfen von Vallauris zusammengesetzt, aus alten Keramikrohren und bröckeligem Backstein. „I feel very close to it in my old age“, sagt David, als sie davorsteht. „I see myself after my death.“

Tatsächlich wirken die Keramikfragmente wie beinerne Überreste, wie die erdgebackene Essenz eines menschlichen Körpers. Davids jüngste Tochter empfindet den Anblick dennoch als aufbauend – ihre Mutter sei so zu unvergänglicher Kunst geworden, sagt sie: „I’m very happy to see my Mother immortal.“

„Sylvette, Sylvette, Sylvette. Picasso und das Modell“: bis zum 22. Juni in der Kunsthalle Bremen

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